Oder, wie man Quadratwurzeln mit Zirkel, dem Geo-Dreick und einem spitzen Bleistift ziehen kann: Die quadratischen Gleichungen nehmen – oft zum Leidwesen der geplagten Schülerinnen und Schüler – einen breiten Raum im mathematischen Lehr- und Lernprogramm der Sekundarstufe I (9./10. Klasse) ein. So führt zum Beispiel die Ermittlung der Nullstellen einer Parabel, abhängig von der Form der vorgegebenen Funktionsgleichung, direkt oder auf dem Umweg über die berühmte pq – Formel zu der Aufgabe, eine Quadratwurzel ziehen zu müssen.
Soweit mir als langjähriger ABACUS-Nachhilfelehrer im Fach Mathe bekannt, wird das schriftliche – und damit anschauliche – Wurzelziehen an den allgemein bildenden Schulen der Sekundarstufe I kaum mehr praktiziert. Taschenrechner werden zu dieser Aufgabe eingesetzt…
Die folgenden Ausführungen zielen nicht darauf ab, diese Taschenrechner beim Ziehen von Quadratwurzeln generell zu ersetzen. Viel mehr sind sie als Vehikel gedacht, einen ergötzlichen Ausflug in die Euklidische Geometrie zu machen.
Im Fokus dieser Betrachtungen stehen die rechtwinkligen Dreiecke und die so genannte „Satzgruppe des Pythagoras“. Diesem griechischen Philosophen und Naturwissenschaftler, der um 570 v. Chr. auf der griechischen Insel Samos geboren wurde, wird der berühmte Satz zugeschrieben, wonach im rechtwinkligen Dreieck die Summe der Quadrate über den Katheten (a und b) gleich dem Quadrat über der Hypotenuse c ist:
Auf Euklid, einen griechischen Mathematiker, der im 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria wirkte, gehen die beiden Kathetensätze und der Höhensatz zurück, die zusammen mit dem erstgenannten Satz die so genannte Satzgruppe des Pythagoras bilden. Sie sind ein Kernstück der Euklidischen Geometrie. Euklids berühmtestes Werk „Elemente“ ist eine umfassende Darstellung des Wissens der griechischen Mathematik mit den Schwerpunkten:
- Pythagoreische Geometrie
- Arithmetik
- Zahlentheorie
Die Ausweitung des Satzes von Pythagoras auf nicht rechtwinklige Dreiecke, der nicht weniger geniale Kosinussatz, wurde als Bestandteil der Trigonometrie sehr viel später in den Veröffentlichungen des schweizerischen Mathematikers Leonard Euler, 1707-1783, publiziert.
Für unsere Aufgabenstellung, mit Hilfe der Euklidischen Geometrie Quadratwurzeln zu ziehen, wollen wir den Kathetensatz heranziehen. Er macht die Aussage, dass im rechtwinkligen Dreieck das Quadrat über einer der Katheten gleich dem Rechteck ist, das aus der Hypothenuse und dem zugehörigen Kathetenabschnitt p beziehungsweise q gebildet wird, die durch den Fußpunkt der Höhe h auf der Hypothenuse bestimmt sind. Demnach gilt also:
Wie wird es also gemacht? Jede Zahl lässt sich als das Produkt zweier Zahlen abbilden. Wenn wir zum Beispiel die Wurzel aus 91 ziehen müssen, können wir diese Zahl als das Produkt 91 = 7 x 13 darstellen. Wir zeichnen die Hypothenuse c = 13cm des rechtwinkligen Dreiecks ABC mit den Endpunkten A und B.
Von B aus tragen wir den Kathetenabschnitt p = 7cm ab und errichten im Endpunkt von p die Senkrechte auf c. Auf ihr (Höhe h des Dreiecks) liegt der Eckpunkt C.
Um ihn zu finden, müssen wir einen weiteren griechischen Philosophen, Mathematiker und Astronomen bemühen. Thales von Milet war ein Zeitgenosse von Pythagoras und hat uns seinen berühmten Thalessatz beschert: „Jedes Dreieck, dessen eine Seite ein Durchmesser seines Umkreises ist, ist rechtwinklig“. Wir konstruieren also mit dem Zirkel den Halbkreis über der Hypothenuse c, der durch die Punkte A und B verläuft und die zuvor errichtete Senkrechte auf c im dritten Dreieckspunkt C schneidet.
Für die so ermittelte Dreiecksseite BC/a, die mit der Seite AC/b einen rechten Winkel einschließt, gilt nach dem Kathetensatz:
Die Messung mit dem Geodreieck ergibt für a einen Wert, der zwischen 9,5 und 9,6 cm liegt. Wenn wir den Taschenrechner heranziehen, dann erhalten wir für Wurzel aus 91 den Wert 9,54 (auf 2 Stellen gerundet).
Doch nicht nur dieses durchaus akzeptable Ergebnis war die ausschließliche Motivation des Autors für diese Skizze aus dem Bereich der Euklidischen Geometrie.
Derartige Wissensinhalte haben gleichermaßen ihre Bedeutung für die naturwissenschaftlichen Disziplinen (MINT-Fächer), wie für unser Bildungsbewusstsein und -verständnis auf der Basis europäischer Kultur und Geschichte.
Insofern stimmt es bedenklich, wenn nach durchaus positiven MINT-Signalen zu Anfang des Jahres (siehe unseren Beitrag vom Februar 2013) nunmehr die Tagespresse berichtet, dass die Universität Hamburg ihren Naturwissenschaftlichen Bereich sowohl hinsichtlich der Professoren als auch im Hinblick auf die Zahl der Studienzulassungen drastisch einseitig zugunsten der Geisteswissenschaften reduzieren will.
Dieser Schnitt, das soll dieser Beitrag auch unterstreichen, wird nicht nur die Weitergabe von MINT-Kompetenzen erheblich schwächen, er bedeutet gewiss auch eine Einbuße im geisteswissenschaftlich-kulturellen Bereich. Bedenkt man, wie eng Philosophie, Mathematik und Physik und nicht selten auch Musik bei den „geistigen Größen“ der Antike, aber auch späterer Epochen verflochten waren, dann darf man wohl die Frage stellen, wie sinnvoll denn die traditionelle Abgrenzung und eine Gewichtung überhaupt zwischen Geistes- und Naturwissenschaften eigentlich ist und wie die Hochschulpolitik vor diesem Hintergrund den zukünftigen Anforderungen der modernen Gesellschaft gerecht werden will.
Ein Gedanke zu „Wurzel ziehen mit dem Zirkel“