Zwei wissenschaftliche Pole bestimmen mit über Lernen und Wissensvermittlung bei Schülern: Die Neurologie und die Art und Weise des Lernens und des Vermittelns, die Pädagogik. Was dem einen „Bildungsnerd“ sein Manfred Spitzer ist, sollte dem Anderen sein John A. C. Hattie sein.
Hattie, ein neuseeländischer Bildungsforscher, hat bereits 2009 sein 15-Jähriges Forschungswerk über zentrale Einflussgrößen des Lernerfolges für Schüler vorgelegt: John A. C. Hattie. Visible Learning: A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London & New York: Routledge, 2009. Eine sogenannte Meta-Analyse von über 50.000 (!) internationalen Studien zum Thema Schule und Lernerfolg.
Hattie listet nicht nur, was bildungspolitisch hilft, sondern was den größten Lernerfolg für Schüler tatsächlich erbringt und nicht nur verspricht oder politisch gewünscht wird. Er listet Einflussfaktoren für Lernprozesse nach deren qualitativen Wirksamkeit auf Schüler und deren Lernfortschritt auf, was naturgemäß schon auf Grund der Verschiedenartigkeiten der Studien, der Untersuchungsgruppen und des langen Betrachtungszeitraumes schwierig ist.
Nichtsdestotrotz konnten mit seinen quantitativen Vergleichsverfahren zentrale Einflussgrößen für den Lernerfolg von Schülern herausgearbeitet werden. Hattie listet 138 Einflussfaktoren nach Rang und „Wirkung auf Bildung“ von Schülern. Davon sind 66 Faktoren von besonderer Relevanz, da diese zu überdurchschnittlichen Lernerfolgen in der Schule führen. Damit wurden Faktoren und Maßnahmen identifizierbar, welche den größten Einfluss auf Lernen und Schulerfolg haben und welche nicht.
Die Ergebnisse werfen einige Aspekte des pseudo-innovativ reformbegeisterten bundesdeutschen Bildungswesens der letzten Jahre etwas durcheinander: So ist neben strukturierter, klarer und störungspräventiver Unterrichtsführung vor allem der Beziehungs- und Interaktionsaspekt zwischen Lehrer und Schüler wichtig, die Kommunikation.
Auch wurde dem individualisierten Lernen und dem offenen Unterricht per se eine kaum lernwirksame Rolle zugesprochen. Das Gleiche gilt für methodische Aspekte wie offene Arbeitsformen, jahrgangsübergreifenden Unterricht, problemorientiertes Lernen, „team teaching“ oder Individualisierung. Hausaufgaben wirken ebenfalls nicht effektiv in der Primarstufe – wohl aber lern- und leistungsverbessernd in der Sekundarstufe I.
Die höchste Wirksamkeit nach Hattie erreicht mit 360% Wirkanteil übrigens die Lernzielvereinbarung mit (und von) den Schülern. Ein Verfahren, welches in der Personalführung, im „Human Recources Management“ der freien Wirtschaft schon ewig und drei Tage zum Beispiel in sogenannten „Strukturellen Entwicklungs-“ beziehungsweise „Zielvereinbarungsgesprächen“ praktiziert wird…
An zweiter Stelle mit 320% steht die kognitive Entwicklung des Schülers selbst, also Faktoren des Entwicklungsstufenmodells nach Jean Piaget: Die Fähigkeit zur „Adaption über Assimilation und Akkomodation“
An dritter Stelle der Lern-Hierarchie nach Hattie steht übrigens die Leistungsbewertung des Unterrichtes mit 225%: Die „formative Evaluation“ (= die Bewertung und Verbesserung eines Prozesses, die innerhalb vorab definierter Zeiträume und vorab definierten Kriterien erfolgt). Also spielt 1. die Leistung der Lehre / Unterweisung eine signifikante Rolle und diese muss 2. auch messbar und validierbar sein.
Der gute, alte Frontalunterricht findet sich übrigens mit einem Wirkanteil von 148% auf Platz 26 der Positiv-Rangskala wieder (Verzeihung: Direkte Instruktion nach Wellenreuther) 😉
Und natürlich spielt auch der sozioökonomische Status des Elternhauses eine sehr große Rolle für den Bildungserfolg eines einzelnen Schülers (Rang 32 auf der Positivskala). Und das nicht nur in Deutschland. Mit entscheidend für den Bildungserfolg von Schülern an Schulen sind auch global und international das Einkommen der Eltern, die Elternbildung und der elterliche Beruf…
Einen noch höheren Stellenwert spielt das sozio-psychologische Umfeld des Schülers, die intellektuelle Stimulation von zu Hause aus und das mütterliche Engagement (Rang 31 mit 143% Lernerfolg).
Schularten, Schulformen, Ganztagsschule, Klassengrößen und ähnliche Spielarten von Bildungs- und schulpädagogischer Reforminfluenza spielen dagegen in der Lernleistungsentwicklung von Schülern eine statistisch kaum wahrnehmbare Rolle.
Faktoren des schulischen Erfolges, welche in der Person des Lehrers liegen, nehmen dagegen nach den Recherchen von Hattie auch international einen hohen Stellenwert ein: Die vor der Klasse stehende Vermittlungsperson und ihre Unterrichtsfähigkeiten sind häufig der Schlüssel für den Lernerfolg der Schüler und diese muss sich in die Schüler hinein versetzen können: „If the teacher’s lens can be changed to seeing learning through the eyes of the students, this would be an excellent beginning“ (Hattie, S. 252). Empathie ist hier das Zauberwort.
Der Schlüssel zur Bildungsvermittlung ist eben auch für den Unterweiser in einer Klasse schlicht nach Aurelius Augustinus: „In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst“ 😉
Das computergestützte Lernen nimmt übrigens mit Platz 104 auf der Hattie-Richterskala einen unterdurchschnittlichen, schon fast kontraproduktiven Rang ein. Natürlich stammen die ersten Datenerhebungen von Hattie aus dem Jahr 1987 und seitdem sind viele Bytes den Datenbach herunter geflossen, aber wir verweisen hier immer gerne auf die Studie zur schulischen Computernutzung von Prof. Vigdor 😉
Zum Einlesen ins Thema ein Die Zeit-Online-Artikel „Wie gut Kinder lernen, hängt von den Fähigkeiten der Lehrer ab„.
Wer’s kommentiert mag, holt sich die „Bildung Bewegt Nr. 13/2011„. Wen’s ausführlicher interessiert, schaut mal bei der Zusammenfassung der Hattie-Studie von Gerry Miller vorbei. Wer sich für die Detailergebnisse interessiert, warum gerade die Person der jeweiligen Lehrer für den Bildungserfolg von Schülern eine so wichtige Rolle spielt, schaut mal in die schon 2003 veröffentlichten Forschungsergebnisse von Hattie in Bezug auf Lehrer-Quali-Faktoren. Die Tabelle mit den so schön gelisteten Einflussfaktoren hat dankenswerterweise Mathe-Lehrerpensionär Kurt Vogelsberger ins Netz gestellt.
Deutsche wissenschaftliche – durchaus differenzierende – Kommentare zur Hattie-Forschungsarbeit finden sich unter anderem bei Terhart (2011) „…eine Absage an eine naiv- oder pseudokonstruktivistische Ausrichtung des Lehrerbewusstseins, das sich eher in der Beobachter – als in der Aktivatorrolle gefällt. Durch dieses aktive, herausfordernde Lehrerbild rehabilitiert Hattie den dominanten, redenden Lehrer, der aber ebenso auch genau weiß, wann er zurücktreten und schweigen muss. Die Perspektive auf den Unterricht ist: Lehrerzentriert. Im Zentrum steht ein Lehrer, für den allerdings seine Schüler im Zentrum stehen. Er muss ihr Lernen sehen können, um sein Lehren daran orientieren zu können.“ (Terhart, Ewald. Hat John Hattie tatsächlich den Heiligen Gral der Schul- und Unterrichtsforschung gefunden? Eine Auseinandersetzung mit Visible Learning. In: E. Keiner, E. u. a. (Hrsg.): Metamorphosen der Bildung. Historie, Empirie, Theorie. Festschrift für Heinz-Elmar Tenorth. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. (S. 277-292)
Für Hattie und für Spitzer gilt die gleiche Erkenntnis: Wissenschaft lohnt sich nicht, wenn man (schul)politisch etwas bewegen will. In unserem Kultur- und Bildungsbetrieb steht das Wohl der Schüler und deren Ausbildung faktisch an allerletzter Stelle der Aufmerksamkeit (faktisch; rhetorisch steht es natürlich immer ganz vorn). Da kommt jeder, der sich eindeutig positioniert – und sei es wissenschaftlich noch so fundiert – unter die Räder: Jeder ist doch zur Schule gegangen und daher selbst Experte genug, wozu brauchen wir dann die Eierköpfe, die uns aufzeigen was falsch läuft?
(Die folgenden Ausführungen bitte ich cum grano salis zu nehmen. Allquantoren wie jeder, keiner usw. treffen in der Regel nicht absolut zu. Allerdings möchte ich, wenn auch holzschnittartig, aufzeigen, woran unser Bildungssystem meiner Meinung nach krankt.)
Die Akteure der Bildung, nämlich Politik, Lehrer, Eltern und die Schüler selbst verfolgen jeder für sich ihre eigenen Ziele, die jeweils wenig miteinander zu tun haben. Niemand kümmert sich um das vorrangige Ziel der Bildung, nämlich den Schülern die Befähigung zu einem erfüllten, selbstbestimmten Leben zu vermittlen.
Die Politik kümmert sich nicht wirklich um die Bildung, weil dazu angeblich das Geld fehlt, und Schüler wählen schließlich noch nicht. Ein weiteres bundesrepublikanisches Ärgernis ist die föderative (lies: chaotische) Organisation des Bildungssystems. Von den Vätern des Grundgesetzes zur Vermeidung von „Gleichschaltungen“ gut gemeint, erweist sich diese Weichenstellung vor allem als weites Feld für profilierungssüchtige Landespolitiker, die krude, unausgegorene und zuweilen untaugliche „Pädagogik“-Konzepte auf dem Rücken unserer Kinder für ihre eigene Karriere und zur Bedienung ihrer Wählerklientel missbrauchen, mit den bekannten Folgen für die sich bereits jahrzehntelang abspielende schleichende Erosion der (schulischen) Bildung. Eine höhere Abiturientenquote wurde nicht etwa durch verstärkte Investitionen im Bildungsbereich bewirkt, sondern durch die Absenkung der Anforderungen. Die Universitätsrektoren und Dekane können ein Lied davon singen.
Die Lehrer kümmern sich nicht, weil ihnen – von Ausnahmen abgesehen – die Empathie fehlt, die Hattie als einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren angibt. Sie werden zu schlecht ausgebildet und zu schlecht bezahlt, als dass man wirklich viele gute Lehrer erwarten kann. Außerdem werden die Lehrer mit zu viel unterrichtsfremden Verwaltungstätigkeiten überlastet, sodass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nicht wirklich gut nachkommen können. Zu große Klassen in Verbindung mit einer unsinnigen Kompression des Lehrstoffs (G8) führen zu erheblichem Frust nicht nur bei den Schülern, sondern auch und gerade bei den Lehrern.
Viele Eltern kümmern sich nicht mehr um die Bildung ihrer Kinder, denn sie müssen sich heutzutage vielfach darum kümmern, das Familieneinkommen zu sichern, oder geben ihrer Selbstverwirklichung (Karriere) den Vorrang, und laden daher ihrer ureigenen Erziehungsaufgaben bei debn Institutionen KiTa und Schule ab. Wehe, es gibt dann Stress! Dann hat die Schule versagt. Interessanterweise stellt auch Hattie darauf ab, dass die Kinder, deren Eltern sich sehr wohl kümmern (können), in der Regel mehr Erfolge verbuchen können.
Viele Schüler kümmern sich nicht um ihre Bildung, weil heutzutage alles wichtig ist außer Schule. Schule ist uncool, denn sie kostet viel Zeit, in der man nicht abhängen oder vor dem PC sitzen kann, sie verlangt ab und zu so schlimme Dinge wie Leistungsnachweise, und es gibt dort absolut ätzende Personen, die glauben, dass man etwas lernen sollte. Dass fehlende Bildung hinterher die Chancen auf dem Arbeitsmarkt beeinträchtigt, stört wenige, denn das ist ja noch sooo weit weg. Wenn dann auch noch die explizite oder implizite Bestätigung dieser Grundhaltung durch eigene Erfahrungen im Elternhaus oder durch entsprechende Sendereihen im Trash-TV erfolgt, darf man sich nicht wundern, dass die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit einer ganzen Generation systematisch niedergemacht wird.
Bin ich zu pessimistisch? Ich hoffe es.
Weihnachtlich milde gestimmt habe ich zum meinem Beitrag von voriger Woche noch Folgendes hinzu zu fügen:
Selbstverständlich gibt es sie, die Lehrer-Innen, die sich kümmern. Sie verdienen die oft zu Unrecht attributierte Bezeichnung „Pädagoge“. Sie wollen den Erfolg ihrer Schüler, sie fördern die ihnen anvertrauten Zöglinge und reiben sich in ihrem Beruf auf, ohne die ihnen zukommende Anerkennung zu erfahren. Bitte machen Sie trotzdem weiter so. Seien Sie Ihren weniger engagierten Kollegen dauerhaft ein Vorbild. Danke.
Auch den meisten Eltern ist die Bildung ihrer Kinder nicht egal. Sie sind ihren Kindern Vorbild, sie helfen wo sie können und schaffen für Ihre Kinder optimale Voraussetzungen. Und wenn das alles nicht hilft, sind sie auch bereit, sich finanziell zu engagieren und ihren Kindern gute Nachhilfe angedeihen zu lassen.
Last but not least: Ca. 40% der Schüler benötigen im Laufe ihrer schulischen Entwicklung Nachhilfe. Die anderen 60% schaffen es also offensichtlich, sich von den Mängeln des Bildungssystems nicht beirren zu lassen. Das über 3.000 Jahre alte Lied von der ungezogenen und faulen Jugend, in das ich vorige Woche lauthals eingestimmt habe, ist so einseitig wie falsch und wird den jungen Menschen in ihrer Welt nicht gerecht. Mehr als zwölf Jahre Tätigkeit in der Nachhilfe haben bei mir Spuren hinterlassen. Manchmal vergesse ich, dass ich berufsbedingt kein repräsentatives Bild von „der Jugend“ bekomme.
„Et in terra pax hominibus bonae voluntatis“ – Und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind! Wenn alle gut gewillten noch besser zusammen arbeiten als bisher, bewegen wir etwas, dessen bin ich mir sicher.
Es sind nur 24% der bundesdeutschen Schüler, welche Nachhilfe erhalten (S. 80ff., M.Albert, K. Hurrelmann et.al.: Jugend 2010, FF/Main 2010), an den Orientierungsstufen der Sekundarstufe I in Hamburg jedoch ca. 32% (S. 325, Haag/Jäger (Hrsg.) EP 2011-25(3), Landau 2011). Also weit weniger Schüler, als man/frau glaubt…