Schule in Hamburg – Das Segregationsproblem

Der Erfolg der Bürgerinitiative „G9-jetzt-HH“ hat in Hamburg eine erneute Diskussion über die Bildungspolitik und Schullandschaft in Hamburg angestoßen, die Fürs und Widers einer Rückkehr zu G9 werden ebenso thematisiert wie die Hamburger Stadtteilschulen in Bezug auf die Qualität der Ganztagsbetreuung (GBS) einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Ein Aspekt, welcher gerade in der Schullandschaft von multikulturellen Ballungsgebieten eine signifikante Rolle spielt, scheint momentan eher weniger wahrgenommen und diskutiert zu werden: Das Segregationsproblem.

Zur Begriffsklärung: Die Soziologie (Lehre der Kulturprogramme) unterscheidet in der Betrachtung unterschiedlicher kultureller Ethnien in einem Gebiet die

  • Assimilation: die einseitige Anpassung einer Minderheit an ihr soziales Umfeld oder Aufgehen in der Mehrheit durch biologische Vermischung
  • Integration: Eingliederung von Minderheiten in den Gesamtzusammenhang eines offenen und pluralen gesellschaftlichen Systems (unter Bewahrung / Einbringung individueller kultureller Eigenschaften)
  • Segregation: Absonderung von fremdethnischen Bevölkerungsschichten mit erheblichen sozialen und politischen Problemen

Anders ausgedrückt, ist Segregation „Entmischung von Menschen in einem Beobachtungsgebiet“, wie wir hier mal den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) von S. 7 der unten verlinkten Studie zitieren.

In Hamburg leben rund 1,7 Mio. Menschen aus 180 Ländern, die, logischerweise, auch Kinder haben. Hamburg ist – und das ist auch gut so – eine wahrhaft internationale Stadt.

Im Schuljahr 2010/11 besuchten insgesamt 180.452 Schülerinnen und Schüler die 414 allgemeinbildenden Schulen in Hamburg, von denen rund 50% einen „Migrationshinweis“ haben, der gesicherte Anteil von 5-15-Jährigen mit Migrationshintergrund liegt laut Mikrozensus bei 48,94%. Soweit die bekannten Fakten. Segregationproblematik beginnt aber schon vorher:

Der Anteil von Schülerinnen und Schülern (SuS) mit Migrationshinweis (sprachlich korrekt wäre Immigrationshinweis…) verteilt sich nämlich unterschiedlich auf die Stadtteile und Bereiche Hamburgs und liegt im Innenstadtbereich und dem östlichen Hamburg (Hamm, Horn, Billstedt, Jenfeld) oftmals über 50 Prozent. Auch einige südlich der Elbe gelegenen Stadtteile (Wilhelmsburg, Neugraben-Fischbek, Hausbruch, Harburg, Allermöhe und Bergedorf) weisen gegenüber dem übrigen Hamburg deutlich höhere Anteile von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshinweis auf (vgl. IfBQ Hamburg Systemanalysen, S. 114). Auf was für Schulen gehen dann diese SuS?

69,7% der SuS mit (Im-)Migrationanteil zieht es (überraschenderweise) an eine Schule, welche bereits einen Migrationsanteil von 50% und mehr besitzt (S. 7ff. SVR-Studie Bildungssegregation 2012).

SuS-Migrationshintergrund muss freilich differenziert betrachtet werden: „…Während Schüler mit einem Migrationshintergrund aus einem Mitgliedstaat der EU mit 46,2 Prozent eine ähnliche hohe Gymnasialquote aufweisen wie Schüler ohne Migrationshintergrund (49,9 %), besuchen Schüler mit einem Migrationshintergrund aus der Türkei (27,7 %) oder dem
ehemaligen Jugoslawien (32,0 %) weiterhin deutlich seltener ein Gymnasium.
“ (S. 11 der Studie). Auch das DJI kommt auf S. 15 in seinem „Jugend-Migrations-Report aus 2012 zu ähnlichen Schlussfolgerungen: „SuS mit serbischer, italienischer oder türkischer Staatsangehörigkeit sind… seltener an Gymnasien anzutreffen.“

Diese schulischen Segregationstendenzen scheinen nicht etwa durch deutsche selektive Schulsysteme provoziert zu werden, denn die Segregation von Kindern mit (Im-)Migrationshintergrund beginnt bundesweit bereits früher: Der Bundesbildungsbericht 2012 stellt auf S. 7 fest: „Kinder, die mit ihren Eltern zu Hause nicht Deutsch sprechen, werden zu einem Drittel in Kindertageseinrichtungen betreut, in denen mehr als 50% der Kinder ebenfalls eine andere nicht-deutsche Familiensprache haben.

Und daher die logische Schlussfolgerung der Wissenschaftler: „In diesen Einrichtungen lässt sich von einem erhöhten Bedarf an alltagsintegrierter Sprachförderung und somit von besonderen Anforderungen an das pädagogische Personal ausgehen.“ (ebenda), was nach noch höherem finanziellen Aufwand duftet und sich – selbstmurmelnd – kummuliert dann auf die (Segregations-) Schulen der Primar- und Sekundarstufen in Hamburg übertragen muss.

Fazit:

In der Praxis entfaltet diese Segregation von SuS eine „Dominosegregation“, eine sich selber stets kummulierende Sogwirkung, welche den (Im-)Migrationsanteil an bestimmten Schulen in Hamburg beständig weiter steigen lässt und so Integrationsbemühungen immer mehr erschwert und in der Schlussfolgerung letztlich wohl verpuffen lässt.

Vor dieser Hintergrundproblematik erscheinen bisherige KESS-Faktor-bezogene zusätzliche minimale Förderstunden- und Stellenzuweisungen an Primar- und Sekundarschulen in Hamburg allenfalls als „Tropfen auf den heißen Stein“, da solche die Segregationstendenzen nicht unterbrechen können. Auch freie Schulwahl, Quotierungen, „Busing“, Magnetschulen und Zwangsvermischungen sind laut SVR und des oben zitierten Forschungsberichtes keine Lösungen. Er empfiehlt ab. S. 25f. – platt formuliert – Segregation hinzunehmen und

  • die betroffenen Schulen besser finanziell auszustatten,
  • das dortige Personal besser zu qualifizieren und
  • Zusammenarbeit mit außerschulischen Akteuren

Vor dieser Hintergrundproblematik erscheint ein bundeseinheitliches Schulsystem, eine „Schule für Alle“, bundeseinheitliche Bildungsstandards mit vergleichbaren Schulabschlüssen, wie es die KMK fordert, wohl als immer realitätsferner.

Denn gerade die Segregationsschulen benötigen – und zwar je nach entsprechender Schülerklientel (!) – hochgradig individuelle und spezialisierte sozio-pädagogische Handlungsstränge. Die unter dem Begriff der „interkulturellen Öffnung“ zusammengefassten durchzuführenden Maßnahmen des SVR geben hier ab Seite 27 ff. einen Einblick.

Schon alleine der geforderte sogenannte adaptive Unterricht ist je nach Unterrichtsfach und Lerngruppe demnach hochgradig vielfältig und individuell zu gestalten. Mit dann auch logischerweise hochgradig individuellem Lernfortschritt und Wissensoutput der einzelnen SuS…

Hier ist dann zum Beispiel die Abkehr von klarer, wertender Notengebung und eine Abschaffung von Klassenwiederholungen im Hinblick auf einen vergleichbaren Kompetenzerwerb wohl eher kontraproduktiv und wirkt so vor dem Hintergrund bundesdeutscher Bestrebungen nach vergleichbaren Schulabschlüssen, nach Vereinheitlichung von Schulsystemen und der von Teilen der Gesellschaft gewünschten Abkehr vom Bildungsföderalismus fast wie die Quadratur des Kreises…

Veröffentlicht von

Dr. Kai Pöhlmann

Dr. Kai Pöhlmann ist Inhaber der ABACUS Nachhilfe Institute Hamburg und Kreis Pinneberg und Gründer des ersten ABACUS-Nachhilfeinstitutes nördlich der Isar. Google+

4 Gedanken zu „Schule in Hamburg – Das Segregationsproblem“

  1. Hallo Herr Pöhlmann,

    ich habe nirgendwo gelesen, dass die Kinder ihrem Lernstand entsprechend auf die verschiedenen Schulformen verteilt werden.
    Wir wissen, dass die Elternentscheidung beim Übergang von Klasse 4 nach Klasse 5 die Segregation eher fördert, als eine Lehrerentscheidung (die im übrigen ebenfalls keine ausreichende „Treffergenauigkeit“ im Bezug auf die später erreichten Schulabschluss aufweist).
    Die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund landen nicht notwendigerweise aufgrund ihrer Leistungen nicht an einem Gymnasium,
    sondern weil deren Eltern ihnen das Gymnasium nicht zutrauen.

    Massnahmen, die alleine auf „Förderung“ setzen, werden hier fehl gehen, weil sie die tatsächlichen Ursachen der Segregation nicht erkennen.

    Studien zeigen, dass Kinder mit Migrationshintergrund trotz gleicher Leistung signifikant häufiger an Nicht-Gymnasien angemeldet werden, als Kinder aus „bildungsnahen“ Elternhäusern.

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