Nachdem an Hamburg der „G9-Sommersturm“ vorbeigezogen ist, soll nun die Qualität des Unterrichtes an der Sammel-Sekundarschulart „Stadtteilschule“ gesteigert werden. Dummerweise hatte nämlich die Lernstandsuntersuchung „KESS 13“ einen großen Lernrückstand zwischen Gymnasial- und Stadtteilschulkindern dokumentiert. Dem will die Schulbehörde Hamburg mit konkreten Maßnahmen nun begegnen. Folgendes ist geplant:
• Erhöhung der Unterrichtswochenstunden in Mathematik und Deutsch auf mindestens vier Unterrichtswochenstunden in allen Jahrgängen
• Fachbezogener Unterricht: Mathematikunterricht muss spätestens ab Klasse 7 von Mathematiklehrkräften erteilt werden.
• Mehr Gymnasiallehrkräfte an die Stadtteilschulen. Eine Quote von über 50 Prozent wird angestrebt.
• Inhalt, Didaktik und Methodik des Mathematikunterrichts soll weiterentwickelt werden.
• Mehr Fortbildungen.
• Ausbau der (Hoch-)Begabtenförderung in Mathematik.
• regelmäßige, schulvergleichende Lernstandserhebungen in Mathematik.
Nun ja. Das alles klingt ja alles zunächst einmal gut. Einige Punkte wollen wir mal näher betrachten.
Nur je vier Unterrichtswochenstunden in Mathematik? Im Jahr 2011 wies die Stundentafel (–> download als pdf) für die geplante Stadtteilschule für den Mathematik-Pflichtunterricht im Schuljahr mindestens 836 Jahres-Unterrichtsstunden bzw. 22 Wochenstunden aus (45-Minuten-Einheiten). Also wirklich eine quantitative Steigerung? 😉
Ab Klasse 7 soll der Unterricht von Mathematiklehrkräften erteilt werden. Eine löbliche Absicht, die aber der Differenzierung bedarf.
Hamburg hat in der Tat zu wenig Mathe- und Physiklehrer. Ca. 15% des Mathe-Unterrichtes wird zur Zeit studienfachfremd erteilt (Diese offizielle Zahl hält der Nachhilfe-News-Blog übrigens für deutlich zu gering). Generell ist eine studienfachorientierte Lehr-Ausrichtung im Unterricht in höheren Kassenstufen natürlich generell sinnvoll. Allerdings ist der Begriff „Lehrkraft“ etwas schwammig und beinhaltet auch „Nicht-Lehrer“. „Lehrer“ ist in Deutschland eine geschützte Berufsbezeichnung, die nur führen darf, wer ein anerkanntes Lehramtsstudium an einer Hochschule abgeschlossen hat. Der Begriff „Lehrkräfte“ schließt somit ausdrücklich auch Unterrichtsquereinsteiger und Nicht-Lehramts-Absolventen mit ein. Anders wäre die Fachlücke an den STS wohl auch kaum zu schließen.
„Die frühere Erkenntnis, dass es keine Fachlehrer braucht, sondern nur den guten Pädagogen, ist falsch“, so wird Senator Rabe im HA heute zitiert. Das ist eher redundant, denn konkretisierend. Denn die eine Polarität wäre sicher genauso falsch wie die andere: Ein „guter Lehrer nach John Hattie“ braucht nicht nur das fachliche, konditionierte Basiswissen, sondern auch die Fähigkeit, dieses Fachwissen anderen, sich nicht auf seinem Wissensstand Befindlichen, engagiert und anschaulich weiter vermitteln zu können. Nachhaltig. Und konditioniert.
Und das ist weder nur vom Fachwissen noch nur vom theoretischen pädagogischen Studienanteil abhängig, sondern auch vom Grad der Empathie und der Fähigkeit, anschaulich an Dritte vermitteln zu können: „In Dir muss brennen, was Du in anderen entzünden willst“. So hat es schon Weiland Aurelius Augustinus formuliert.
Und ob eine pauschale Anhebung von Gymnasiallehrern das Schulniveau an Stadtteilschulen steigen lässt? Letztendlich entstehen die Lernrückstände an den Stadtteilschulen laut KESS 13 ja eher in den unteren Klassenstufen und nicht erst in der Sekundarstufe II. Dort ganz im Gegenteil. Da holen Stadtteilschüler eher auf.
Wir sehen hier u.a. wichtige Ursachen für Lerndefizite in Mathematik unberücksichtigt:
- Die häufig mangelnde Fähigkeit, Mathematik als Anwendungswissen plastisch und begreifbar für Schüler darstellen zu können und
- die derzeitige „Lernfeldorientierung“ im Unterricht: Module und Bereiche in Mathematik werden nur noch „angerissen“, die Schüler sollen sich häufig den Lehrstoff selber erschließen. Hintergründe werden nicht ausreichend erläutert, Basiswissen wird kaum noch über Hausaufgabenvergabe oder im Unterricht wiederholt und konditioniert. Der Teilbereich wird zwar angesprochen und als „behandelt“ vom Lehrer dokumentiert, aber nicht mehr bei und mit den Schülern erklärt und verfestigt. Mathematik verzeiht aber – im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften – gar keine Verständnis- und Wissenslücken. Diese schlagen spätestens ab der 7. oder 8. Klasse voll durch: Wer Binome nicht anwendungssicher begriffen hat, kann nun mal keine Terme auflösen.
- Die Frage der Vergleichbarkeit von Schulleistungen über externe Vergleichsuntersuchungen erscheint problematisch, wenn jede Schule sich ihre individuellen, schuleigenen Fachcurricula in Abhängigkeit zu den KESS-Faktoren selber „backen“ darf.
Ausdrücklich sei hier betont, dass es an Hamburger Schulen hochengagierte Mathematik-Lehrerinnen und -lehrer gibt, die zum Beispiel den Lehrsatz des Pythagoras anschaulich und anwendungsorientiert vermitteln können, in dem diese zum Beispiel mit Ihrer Klasse auf den Schulhof gehen und ein „Haus mit geraden Ecken bauen“ in dem sie plastisch über eine Diagonalenvermittlung mit Ihren Schülern die vier rechtwinklig zueinander stehenden Eckpunkte ermitteln. Aber es gibt genauso die „Mathematiklehrkraft“, welche selbige Grundlage mit dem Satz als erfolgreich an Schüler vermittelt ansieht, in dem sie „Die Summe der Kathetenquadrate entspricht dem Hypotenusenquadrat“ zum Abschreiben an die Tafel setzt. Und genau Solches stellt das Problem dar. Schulmathematik ist reine Anwendungsmathematik. Praktisch sämtliche Operationen sind hier noch plastisch und mit realem Lebensbezug darstellbar. Man muss nur diese Anwendungskorrelation den Schülern auch darstellen können. Wir haben beispielsweise einen Nachhilfelehrer, der Gleichungssysteme mit einer Waage im Nachhilfe-Unterricht darstellt: „Auf der linken und rechten Schale müssen nicht die gleichen Dinge drauf liegen. Aber gleich schwer müssen sie sein!“
Und mit solchen Darstellungen ist das „Angstfach Mathematik“ an Schulen auch Schülern mit weniger logisch-abstraktem Talent anschaulich zu vermitteln. 😉