Die Schulen in Hamburg wollen den Schulunterricht individuell und kompetenzorientiert möglichst für jeden Schüler gestalten
Auskunft, wie die Individualisierung im Unterricht an den Hamburger Schulen umgesetzt werden soll, geben die Rahmenkonzepte der Hamburger Bildungsoffensive für die einzelnen Schulformen:
„…Die Schule hat die Aufgabe, das Lernen jeder Schülerin und jedes Schülers zu befördern und jede Einzelne und jeden Einzelnen darin zu unterstützen, Verantwortung für den individuellen Lernprozess und die Gestaltung des individuellen Bildungsweges zu übernehmen. Dazu gestaltet sie Lernumwelten und schafft Lernsituationen, die vielfältige Ausgangspunkte und Wege des Lernens ermöglichen. Sie stellt die Schülerinnen und Schüler vor komplexe Aufgaben, die eigenständiges Denken und Arbeiten fördern und regt das problemorientierte, entdeckende und forschende Lernen an. Sie gibt ihnen auch die Möglichkeit, an selbst gestellten Aufgaben zu arbeiten… “
Dieses Konzept kann nur nachdrücklich unterstützt werden: Je besser es Schule gelingt, in einer Lerngruppe Schülerinnen und Schüler individuell anzusprechen, je besser wären die Lernfortschritte der einzelnen Schüler: Jeder Schüler in Hamburg soll sich das Lernfeld in möglichst eigenem Tempo erschließen können.
Das individualisierte und kompetenzorientierte Unterrichtskonzept in Hamburg wird wissenschaftlich vom auf 5 Jahre angelegten Schulversuch „Alleskönner“ von der Uni Kiel begleitet. Man will sich hier an Finnland orientieren, die in Ihren Bildungsplänen die Lernziele als Kompetenzbereiche definieren.
Noch stößt der individualisierte Unterricht in Hamburg in der Praxis an Grenzen und wirft dadurch Handlungsbedarf an widerum anderer Stelle auf. Einige Beispiele:
– Die jeweiligen Kompetenzbereiche sind in den Hamburger Bildungsplänen für alle Fächer und Schularten so noch gar nicht definiert, es wird aber schon fleißig an Hamburger Schulen im Fachunterricht individualisiert…
– Die Fachlehrer haben eine Lernvorgabe in Form des Bildungsplanes (Lehrplan) zu erfüllen und nur 45 bis 90 Minuten Unterrichtszeit am Stück für den Fachunterricht zur Verfügung.
– Ein schulischer Unterricht wird immer eine Gruppenveranstaltung bleiben, egal nach welchen Kriterien eine Lerngruppe schulisch zusammengesetzt wird.
– Eine Individualisierungsanweisung einer Schulbehörde führt zwangsweise zur Verstärkung der „Autarkie“ der einzelnen Lehrkräfte und damit zu noch größeren Fachunterrichts-Unterschieden an der jeweiligen Schule, da jeder Lehrer hier seine eigene Ansprache, Methodik und Didaktik entwickeln und unter Umständen auch unterschiedliches Lehr- und Lernmaterial im Unterricht verwenden muss.
– Der Kontrollaufwand des jeweiligen Fachlehrers ist ungleich höher, da jeder Schüler der Unterweisungsgruppe individuell (und genau) auf das Erreichen des jeweiligen Lernzieles (beziehungsweise auf Beherrschen des Kompetenzbereiches) überprüft werden muss.
– Der Fachunterricht an einer Schule in einem bestimmten Fach und bestimmter Klassenstufe ist mit klassenindividuellen, zeitpunktbezogenen Leistungsabfragen (= Klassenarbeiten) dann auch problematischer zu vergleichen: Im Prinzig muss dann für jeden Schüler eine eigene Klassenarbeit entsprechend des jeweiligen individuellen Lernfortschrittes konzipiert werden…
So gibt es hier noch viele unterweisungstechnische „Baustellen“ in Hamburg, um die Theorie in die Praxis umzusetzen. Oder sollte es umgekehrt sein? Vielleicht mal aus der Praxis Anregungen für die Theorie abzuleiten?
Ich habe gerade gesehen, dass das „Rahmenkonzept“ auf dem Stand von März 2009 ist. Höchst wahrscheinlich gibt es inzwischen kleinere oder größere Konzepte zur praktischen Umsetzung auf lokaler Ebene.
Interessant wäre jetzt einmal die eine oder andere Wortmeldung aus der Lehrerschaft, wie (kreativ) die Dinge in der Praxis tatsächlich gehandhabt werden – jenseits der „einfach ignorieren“ -Grenze. Klingt ein bisschen nach „Steilvorlage ohne Rückendeckung, mit ungewissem Ausgang“.
Die Forderung nach individueller Förderung könnte vielleicht klappen, wenn an der gleichen Unterrichtseinheit mehrere Lehrer teilnehmen. Zum Beispiel 2-3, die leise herum rotieren und nachhelfen und einer, der vorne steht und den Taktstock schwingt. (Dann allerdings könnte man auch gleich mehr Lehrer einstellen und die Klassen z.B. auf 10er-Grüppchen verkleinern. Nun ja…)
In der gleichen Unterrichtsstunde würden vermutlich aber auch im Lehrergespann nicht alle das gleiche Lernziel erreichen oder die passende Hilfestellung erhalten können. Daneben stünde zu befürchten, dass die gesamte Klasse durch Rückfragen und Wiederholungen „von offizieller Seite“ gebremst wird. Wer „parallel im Stillen“ abgelenkt wird, kann wiederum dem Tacktstock vorne nicht mehr folgen. So oder so, es scheint recht kompliziert zu sein, den Wünschen zu entsprechen – vor allem in der tatsächlichen Situation, mit einem Lehrer für viele Schüler.
Impliziert das Rahmenkonzept also im Grunde einfach ein „Zwangsnachsitzen für Lehrer und einen Teil ihrer Schüler“?