Dem Abitur an den Hamburger Gymnasien – dem sogenannte „Turbo-Abi“ schon nach 8 und nicht nach 9 Jahren – soll es nunmehr zumindest in Hamburg basisdemokratisch „an den Kragen“ gehen: Die Volksinitiative „G9-jetzt-HH“ von Mareile Kirsch hat die entsprechenden Beantragungen zur Einleitung eines Volksbegehrens heute im Hamburger Rathaus eingereicht. Sehr zum Ärger der politischen Parteien in Hamburg, welche – je nach Couleur – den sogenannten Hamburger Schulfrieden, die Existenz der Stadtteilschulen, die das Abitur in 9 Jahren anbieten oder die Stadtfinanzen bedroht sehen. Angeblich müssten Prüfungsordnungen Stundenzuweisungen und Lehrpläne umfänglich und aufwändig umgeplant werden, gegebenenfalls gar Schulen wieder umgebaut werden.
So ganz wollen diese Begründungen nicht einleuchten, doch zunächst einmal die nackten Zahlen in Hamburg angeschaut, entnommen aus der offiziellen Bundes-Schulstatistik der KMK, veröffentlicht im Dezember 2012:
Schülerzahlen an Hamburger Gymnasien im Jahr 2002: 49.790. In 2011: 53.027.
Lehrerzahlen an den Gymnasien in Hamburg in 2002: 3.222. In 2011: 3.673.
Erteilte Unterrichtsstunden: 70.316 in 2002 zu 77.059 in 2011.
Die Schülerzahlen an Gymnasien seit 2002 sind also um 6,1% gestiegen, die Anzahl der erteilten Unterrichtsstunden aber um 8,8%? (Vgl. o.a. Statistik S. 145 und 146)
Noch deutlicher wird es, wenn man sich den Unterschied bei der Sekundarstufe I und der Oberstufe (E-Q2) anschaut:
Schülerzahlen Gymnasium Stufe 5-9/10 in Hamburg: 2002: 35.445. In 2011: 35.230, Unterrichtsstunden: 46.344 zu 48.625 in 2011
Oberstufe Schülerzahlen: Jahr 2002: 14.345 zu 17.797 in 2011. Erteilte Unterrichtsstunden: 23.972 in 2002 zu 28.434 in 2011
Schlussfolgerung aus den Zahlen:
- Schüler haben längere Schultage, denn bei einer um ein Jahr verkürzten Gymnasialschulzeit verlagern sich diese Schulstunden logischerweise in den Nachmittag (allseits bekannt). Dieser Effekt verstärkt sich aber noch, denn bei leicht geringerer Schülerzahl in der Sek. I ist die Schulstundenanzahl zusätzlich um 4,7% gestiegen: Die G8 Schüler haben also nicht nur ein Jahr weniger Zeit, sondern zusätzlich absolut mehr Unterrichtsstunden als ein G9er
- In der Oberstufe gibt es dann einen gegenläufigen Effekt: Hier ist zwar die Schülerzahl vom Jahr 2002 zu 2011 um 24% gestiegen (Zuläufer anderer Schularten und Wiederholer), die Unterrichtsstunden-Versorgung aber nur um 18,6%
- Da ja die Anzahl der Schüler je Lehrer in der Oberstufe von 13,1 auf 12,6 gesunken ist, lässt das den (eigentümlichen) Schluss zu, dass vermehrt Lehrerpotenzial in die Oberstufe geflossen ist, welche aber weniger Stunden unterrichten.
Die Gymnasiums-Verkürzung, das sogenannte Turbo-Abi wurde in Hamburg seit 2002 bis abschließend deckend 2010 eingeführt. G8 ist in Hamburg an Gymnasien verbindlich und kein Wahlrecht. Die Initative um Frau Kirsch möchte nicht wieder auf G9 zurückdrehen, sondern nur ein Wahlrecht – G8 oder G9 – für Schüler / Eltern erkämpfen, nach dem Vorbild des sogenannten Y-Modells in Schleswig-Holstein.
Zu den Bedenken:
1. Gefährdung der Stadtteilschulen.
Als Argument wird häufig angeführt, dass die Schüler an Stadtteilschulen ein Jahr länger Zeit bekommen sollen, um eben auch leistungsstärkere Schüler mit Gymnasialempfehlung an die Stadtteilschulen zu ziehen. Dieser „Wettbewerbsvorteil“ würde dann hinfällig werden. Abgesehen davon, dass Stadtteilschulen gesellschaftlich einen völlig anderen Bildungsauftrag als ein Gymnasium haben sollten, könnte dieser Vorteil doch einfach durch ein „G10“ wieder hergestellt werden ;-). Oder mit welcher Begründung sollte ein Schüler eines Gymnasiums denn weniger Freizeit als ein Stadtteilschüler genießen dürfen? Oder anders herum gefragt: Warum soll denn ein Gymnasialschüler überhaupt mehr Schulunterricht unter der Woche haben als ein Stadtteilschüler? Wir sprechen hier nicht von Schulverweilzeiten im Rahmen einer Ganztagsschule, sondern von reinen Schüler-Unterrichtsstunden.
Global entfaltet es bei einer statistischen Lebenserwartung von 89-94 Jahren und einer steigenden Lebensarbeitszeit in Deutschland ohnehin keine Signifikanz, ob ein Schüler in Hamburg sein Abitur mit 17 oder 20 Jahren ablegt. Das Alter mag sicher im Mittelalter in Europa eine andere Relevanz gehabt haben. Aber damals wurden Mädchen auch mit 13 Jahren zwangsverheiratet und ein Mensch war mit 40 Jahren bereits steinalt…
2. Änderung von Bildungsplänen und Prüfungsordnungen
Die alten Lehrpläne, Stundenzuweisungen und Prüfungsordnungen aus der guten, alten G9-Zeit in Hamburg werden sich wohl noch in irgend einer Schublade in der Hamburger Straße auftreiben lassen: Ein preußischer Beamter schmeißt so was nicht einfach weg und die Schulgebäude und Klassenzimmer sind doch wohl auch noch vorhanden. Mehr Lehrer an den Gymnasien in Hamburg hat’s seit 2002 eh‘, also ein lösbares Problem?
3. Höhere Kosten
In der Tat ein Argument: Ein Lehrer am Gymnasium „schleust“ in G8 bei gleichbleibender Arbeitszeit in seiner Lebensdienstzeit natürlich ein Achtel mehr Schüler durch als in G9. Die von den Politikern mühsam mit pädagogisch-globalen Pseudoargumenten erkämpfte „Arbeitsproduktivitätssteigerung“ von Lehrern an Gymnasien würde hinfällig werden: Neues Lehrpersonal müsste ein Schuljahr früher eingestellt werden, die kalkulatorischen Kosten je Schüler stiegen wieder um ein Achtel.
4. Gefährdung des Schulfriedens
Da muss der Verfasser mal polemisch und emotional werden: Demokratie bedeutet vereinfacht, dass alle Macht vom Volk ausgeht. Politiker sind nur qua Mandat von der Bevölkerung zur Wahrung deren Interessen in Ihren Ämtern! In Hamburg sind die Vorschriften für ein Volksbegehren noch dazu klar ausgeregelt. Wer die Spielregeln einhält und die juristischen Hürden schafft, kann die politische Administration auch zu Änderungen zwingen! So – und genau so – funktioniert Demokratie. Nicht Mitläufertum und Passivität, sondern Engagement und der Versuch der Begeisterung der Mehrheit für die eigene Idee und damit gegebenenfalls auch für eine Wandelung.
Selbstverständlich darf man für G9 im Interesse seiner Kinder und deren Bildungsinteresse, Freizeitanteil und Stressarmut streiten. Das ist in einer Demokratie ohne böse Hintertöne zu akzeptieren! Genau so, wie sich als Beispiel eine Volksinitiative zum Aufhängen eines Halbmondes in allen Hamburger Grundschulen gründen könnte. Auch das müsste eine Demokratie dann aushalten und tragen. Wäre bei einem Schüler-Migrationsanteil von 50,6% an Grundschulen in Hamburg wohl auch gar nicht allzu abwegig.
Weiterführende Infos zu G8/G9 können Sie dem Nachhilfe-News-Blog hier, auf der Internetpräsenz von Frau Dr. Kirsch anschauen oder auf dem – leicht polemischen – Faktencheck auf „Wir wollen lernen“ nachlesen. Der Philologenverband B-W hat schon im letzten Jahr eine Argumentationszusammenstellung G 9 veröffentlicht, die bereits auf die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Ganztagsbeschulung durch die Hintertür Bezug nimmt.
Ein Gedanke zu „In Hamburg an Gymnasien bald wieder G9 möglich?“