Der Widerspruch zwischen der öffentlichen Wahrnehmung von Bildung und dem, was tatsächlich von der Bildungspolitik umgesetzt wird, kann größer nicht sein.
Die Realität: Bildungspolitischer Aktivismus ohne effiziente Wirkung im alltäglichen Bildungsbetrieb. Mit den
PISA-Leistungsstudien um die Jahrtausendwende sind im Schnellschuss bildungspolitische Maßnahmen formuliert worden, die seit Jahren weit über die realen Möglichkeiten des bestehenden Bildungssystems hinausgehen.1 Eine klare Regelung darüber, wie künftig das Bildungssystem nachhaltig und zielführend verändert werden kann, um im internationalen Wettbewerb mitziehen zu können, liegt weiterhin nicht vor. Die Verständigung auf gemeinsame Standards verschwindet in den föderalen Strukturen des Landes.
Es stellt sich nunmehr die Frage, ob die endlose Diskussion um den Bildungsbegriff tatsächlich einem grundlegenden Wandel unterlegen ist, oder ob dieser nicht einfach eine positive Erweiterung mit der Durchdringung digitaler Medien im Lebens- und Schulalltag von Schülern erfahren hat. Dass sich Lehr- und Lernmethoden verändert haben, ist eine Tatsache, der sich auch die größten Widersacher digitaler Bildung stellen müssen. Dennoch gibt es weiterhin den klassischen Bildungsauftrag, „den Menschen gegenüber den Verhältnissen, in denen er lebt, frei zu machen“.2
Elemente des humanistischen Bildungsideals zugunsten „ganzheitlicher Kompetenzentwicklung“, um sich reibungslos den globalen Anforderungen anzupassen, stehen unserer kulturellen Tradition diametral gegenüber. Ökonomische Denkmuster auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen zu übertragen widerspricht den Gesetzmäßigkeiten von lebendigem Wissen.
Die Verwandlung von Wissen in Wissenskapital wird jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn ihr gesellschaftlicher Nutzen zutage tritt. Zwar hat sich die Möglichkeit, einen individuellen Einfluss auf die eigene Bildungsbiografie zu nehmen, mit der Flexibilität und Autonomie des Individuums erhöht, aber gleichzeitig ist der Druck der Verantwortung eines lebenslangen Lernens so enorm gewachsen, dass von Freiwilligkeit hier keine Rede mehr sein kann. Paradoxerweise findet Identität nicht mehr über die Bildung als Allgemeingut statt, sondern definiert sich über die Qualifikation der Ware Bildung. Damit entsteht eine Abhängigkeit des Einzelnen zum lebenslangen Lernen und zur Absicherung seiner nachhaltigen Lebensgestaltung. Die Hoffnung auf Enthierarchisierung und Chancengerechtigkeit geht verloren, weil sozial und ökonomisch Benachteiligte dem Leistungsdruck häufig nicht standhalten können. Die Kluft zwischen Arm und Reich drückt sich im globalen Kontext in Wissen und Bildung aus.3 Die moderne Gesellschaft löst sich allmählich aus ihren traditionellen Lebensformen heraus. Globalisierung, Individualisierung und Migration tragen dazu bei, dass sich andere soziale Sinnwelten formen, die zu einer neuen Kulturbildung führen. Doch die damit verbundenen Chancen und Risiken sind ungleich verteilt, weil die Bedingungen, die an eine erfolgreiche Bildungsteilhabe geknüpft sind, manche Aktanten und Gruppen schlichtweg überfordern.
Die Aufgabe von Erziehung und Bildung muss also sein, die stetig wachsende Multikulturalität in der Gesellschaft aufzufangen und das Potenzial an Kreativität und Innovation, das in ihr steckt, als Motor für einen weiterentwickelten Bildungsbegriff zu nutzen. Daher ist es ein fundamentaler Widerspruch, dass der Bildungsbegriff, der quasi mit bildungspolitischen Strategien zum wirtschaftlichen Erfolgsinstrument hochstilisiert worden ist, die wissensbasierte Ungleichheit fördert und zugunsten neoliberaler Interessen in Kauf nimmt. Mit der ungleichen Verteilung von Bildungsressourcen werden Hierarchien zwischen den globalen Kulturen verschärft, die sich langfristig auf die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten auswirken. Der Bildungsbegriff stößt dann an seine Grenzen, wenn in der Schulpädagogik weiterhin versäumt wird, die neuen Maßstäbe einer veränderten Kultur in den gesellschaftlichen Bildungsprozess einzuflechten. Auf die Einbindung medienpädagogischer Inhalte kann nur dann medienkritisch reflektiert reagiert werden, wenn diese sich nicht ausschließlich auf Medienkompetenz beziehen, sondern auf allgemeine Reflexionskompetenzen, die auch Widerspruch und Ambivalenz gegenüber schulischer Modernisierung hervorrufen können. Das schulische Bildungssystem steht in Zukunft vor der enormen Herausforderung, den Verlust der Unmittelbarkeit durch digitale Medien und die Unmittelbarkeit des Dialogs aufzufangen. „Wir brauchen für eine Welt, in der es Computer gibt, vor allem etwas, was wir an den Computern gerade nicht lernen können – das offene, dialogische, zweifelnde, entwerfende, bewertende, philosophische Denken.“4
Ein Bildungsbegriff, der sich nur in die Abhängigkeit der Technik begibt, mindert den Wert der Bildung, weil mit dem Druck auf Qualitäts- und Effizienzsteigerung der Auftrag der Schulen verloren geht, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Lebenskompetenzen mit auf den Weg zu geben. Das Dilemma der Schulen scheint in eine Sackgasse zu führen: Wenn Schule sich der mediatisierten Welt ihrer Schüler entzieht, steht sie isoliert da und kann ihrem gesellschaftlichen Auftrag nicht mehr nachkommen – wenn Schule sich als Institution aber ganz auf die Mediatisierung einstellt, läuft sie Gefahr, sich selbst in Zukunft als bildende Wirkungsstätte überflüssig zu machen.5 Die pädagogische Kernfrage sollte sich daher an der Formel McLuhans orientieren, ob „das Medium die Botschaft“ ist.
1 Vgl. Hentig von, Hartmut: Schule neu denken. Eine Übung in pädagogischer Vernunft. Beltz, Weinheim, 2012. ↩
2 Vgl. Hentig von, Hartmut: Bildung. Ein Essay. Beltz, Weinheim, 2009, S. 91. ↩
3 Vgl. Leitner, Kriemhild: Lifelong (L)earning – Bildung zwischen Kultur und Kapital. In: Klein, Regina; Dungs, Susanne (Hrsg.): Standardisierung der Bildung. Zwischen Subjekt und Kultur. VS, Wiesbaden, 2010, S. 158–162. ↩
4 Vgl. Hentig von, Hartmut: Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben. Nachdenken über die Neuen Medien. Beltz, Weinheim, 2002, S. 73. ↩
5 Vgl. ebd., S. 198–208. Vgl. dazu auch: Böhme, Jeanette: Schule am Ende der Buchkultur. Medientheoretische Begründungen schulischer Bildungsarchitekturen. Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 2006, S. 43–46. ↩