Lerninhalte, die bei der Vermittlung von MINT–Wissen in der Schulpraxis offenbar verloren gegangen sind
Die in allen Bereich der Medien aktuell verkündete Botschaft, dass das G9–Abiturium wieder gesellschaftsfähig ist – zumindest an Gymnasien in Schleswig–Holstein, lässt Hoffnung aufkeimen:
Wenn es gelingt, die Curricula für den Mathematikunterricht in der Oberstufe zu entzerren und so zu gestalten und ab zu arbeiten, dass die in der G8-Phase bei Lehrern und Schülern vorherrschende Hektik einer zumutbaren Zeitplanung auf beiden Seiten weichen wird, dann wäre fürwahr etwas gewonnen im Sinne erfolgversprechender Wissensvermittlung. Und davon würden aus meiner Sicht, die die eines im MINT-Bereich tätigen Nachhilfelehrers ist, auch andere Fächer im Oberstufenbereich profitieren.
Wenn sich der Autor in der Einleitung und im weiteren Verlauf dieses Beitrags auf die Bahn der Hoffnung hinsichtlich der zukünftigen Curricula für den Mathematikunterricht begibt, so möchte er seit längerem bestehende inhaltliche Defizite im Lehrplan in die Betrachtungen mit ein beziehen. Hierbei geht es um mathematische Kenntnisse, die als Basiswissen für verschiedene naturwissenschaftliche Studienrichtungen – vor allem im Ingenieursbereich – benötigt aber nicht gelehrt werden.
Bereits in früheren Beiträgen hatte der Autor “beklagt“, dass die Umkehrfunktionen der im Mathematikunterricht behandelten Funktionen – etwa der trigonometrischen oder der Exponentialfunktionen – nicht erwähnt werden und damit auch als mathematisch korrekter Lösungsansatz für die entsprechenden Aufgabenstellungen unter den Tisch fallen. Statt dessen finden sie ihren Niederschlag in Bedienungsanweisungen der Taschenrechner, die in komfortabler Ausstattung heute allen Schülerinnen / Schülern der Sekundar- und Oberstufe zur Verfügung stehen. Das gilt für das Gebiet der trigonometrischen Funktionen: f(x) = sin x, f(x) = cos x und f(x) = tg x.
Die zugehörigen Umkehrfunktionen nämlich: f(x) = arcsin x, f(x) = arccos x und f(x) = arctg x sind in der Praxis des Schulbetriebes schlichthin verlorengegangen.
Gleiches gilt auch für den Umgang mit Exponentialfunktionen. Die Curricula für den Mathematikunterricht enthalten zwar die Behandlung der Logarithmusfunktionen. Dass dies die zugehörigen Umkehrfunktionen und deshalb die Lösungsansätze zu den Exponentialfunktionen sind, wird nicht behandelt. Statt dessen auch hier Bedienungshinweise für die Taschenrechner (siehe hierzu frühere Beiträge).
Hoffnungmachende Ansätze – wenn auch sehr vereinzelt – gibt es: In einem Artikel des Hamburger Abendblattes vom 06. Februar 2018 wird darüber berichtet, dass ein Gymnasium in Wedel mit der Bildung einer sogenannten Schuloase ein innovatives Projekt verfolgt mit dem Ziel, “Lernschwache und Hochbegabte“ trotz fehlender Förderstunden angemessen zu fördern. “In die Oase können sich sowohl Kinder mit Förderbedarf als auch lernstarke Schüler zurückziehen. In eigens eingerichteten Räumen werden sie individuell und temporär unterrichtet, damit sie mit dem durchschnittlich geforderten Lerntempo besser mithalten“ (Zitat).
Bei der Förderung der Lernstarken sind die Ziele offenbar hochgesteckt: Das Foto zu diesem Artikel zeigt eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern mit Lehrkräften vor einer Tafel. Einer der Schüler bearbeitet an der Tafel ein uneigentliches Integral, wobei die Integralfunktion – man sehe und staune – die Funktion arcsin (x) enthält, eingebettet in einen für übliche Oberstufenverhältnisse recht anspruchsvollen Funktionsterm unter dem Integral.
Wie tröstlich: Sie lebt also noch – die Umkehrfunktion von sin(x) und Schülerinnen / Schüler an einer Pinneberger Schule befassen sich mit ihr.
Weitaus schmerzlicher aber empfindet es der Autor, dass das Wissensgebiet der komplexen Zahlen als Lehr- und Lerninhalt aus der Schulpraxis seit langem verschwunden ist. Er weiß weder, wann das geschehen ist, noch kann er belegen, dass stattdessen die Stochastik ihren Platz in den MINT–Curricula der Oberstufe eingenommen hat. Es liegt ihm auch fern, diese beiden Gebiete gegeneinander zu wägen.
Bei der Recherche zu diesem Thema stieß der Autor auf einen Zeitungsartikel in der “Welt“ vom 20.04.2005 mit dem Titel: “Lehrer kritisieren Lehrpläne“. Hierin zitiert die Autorin Christa Beckmann den Fachbereichsleiter für Mathematik an einem Berliner Gymnasium wie folgt: “Die Schüler bekämen keinen präzisen Begriff mehr davon, was ein Grenzwert ist, “komplexe Zahlen“ seien ganz aus dem Lehrplan gestrichen… Den Schülern fehlen damit wesentliche Voraussetzungen beispielweise für das Grundstudium der Mathematik oder der Physik“. Hinzufügen will ich hier die Tatsache, dass dies auch für weite Bereiche der Ingenieurswissenschaften gilt, vor allem für die Elektrotechnik.
Die komplexen Zahlen sind eine Erweiterung der Menge der reellen Zahlen dahin gehend, dass die Gleichung x² + 1 = 0 lösbar wird. Das wird erreicht durch die Einführung der imaginären Zahl i mit der Eigenschaft: i² = -1.
Die komplexe Zahl z wird entweder mit ihren kartesischen Koordinaten a und b, die reelle Zahlen sind, in der Form: z = a + ib oder mit den Polarkoordinaten r = Betrag von z und dem Winkel φ zwischen der reellen Achse und dem Zeiger der komplexen Zahl z in der Form: z = re hoch iφ = r(cosφ + isinφ). Hiermit korreliert die graphische Darstellung der komplexen Zahlen in der Gaußschen Ebene: In einem rechtwinkligen Achsenkreuz – ähnlich dem Kartesischen Achsenkreuz – ist die waagerechte, nach recht positiv orientierte Achse die reelle Achse, die senkrechte, nach oben positiv orientierte Achse ist die imaginäre Achse.
In vielen Bereichen der Physik und der Technik lässt sich die Schreibweise der jeweils gültigen Gesetze mit Hilfe der komplexen Zahlen vereinfachen. So sind sie unter anderem eine Rechenhilfe bei der Lösung von Differentialgleichungen (siehe hierzu auch „Laplace Transformation“).
Im Bereich der Ingenieurswissenschaften ist es vor allen Dingen die Elektrotechnik, die die Kenntnis und sichere Handhabung der komplexen Zahlen voraussetzt. Stromkreise in der Wechselstromtechnik mit ohmschen Widerständen im Verbund mit induktiven (Drosselspulen) und kapazitiven (Kondensatoren) Verbrauchern benötigen zu ihrem Verständnis und ihrer Berechnung die Anwendung der komplexen Zahlen und der für sie geltenden Rechenvorschriften. Der Gesamtwiderstand eines solchen Wechselstromkreises hat eine sogenannte Wirkkomponente, die in der Wirkungsrichtung der reellen Achse anzusetzen ist, sowie zwei sogenannte Blindkomponenten, die in die positive (induktiver Anteil) beziehungsweise in die negative (kapazitiver Anteil) Richtung der imaginären Achse fallen. Dementsprechend hat auch die elektrische Leistung, die in einem derartigen Stromkreis umgesetzt wird, zwei Komponenten: Eine die in Richtung der reellen Achse fällt, die sogenannte Wirkleistung (in kW), sowie eine resultierende sogenannte Blindleistung (in kVar), die in der Richtung der imaginären Achse wirksam ist. Die resultierende Gesamtleistung ist die geometrische Summe aus Wirk- und Blindleistung, die sogenannte Scheinleistung (in kVA).
Der Autor verfolgt mit diesem Exkurs in Grundbegriffe der Elektrotechnik das Ziel, klar zu stellen: Schülerinnen und Schülern unserer Gymnasien und Gemeinschaftsschulen, die sich für das schöne und sehr aussichtsreiche Studienfach Elektrotechnik entscheiden, fehlt auf Grund ihrer Schulausbildung wesentliches Basiswissen im Bereich der Mathematik. Die Ausrichtung der Mathematikvorlesungen im Grundstudium der Ingenieurswissenschaften an den Hochschulen und Universitäten muss dieser Tatsache Rechnung tragen.
Wenn es denn wahr ist, dass Bildung und Ausbildung auf hohem Niveau die Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft sind, dann müssen aus Sicht des Nachhilfelehrers für MINT-Fächer die aktuell gültigen Curricula für den Mathematik- und Physikunterricht in der Sekundar und Oberstufe auf den Prüfstand gestellt werden.