Die immer komplexer werdende Lebenswelt, in der Beschleunigung und Informationsüberlastung kaum mehr aufzuhalten sind, hat längst die schulischen Bildungsinstitutionen erreicht. Den Auswirkungen auf das Bildungswesen und das veränderte Lernverhalten von Schülern ist bislang sowohl von gesellschaftspolitischer als auch wissenschaftlicher Seite nicht erschöpfend Rechnung getragen worden.
Es wird ignoriert, dass sich das Denken selbst verändert hat, denn nicht nur die mündliche und schriftliche Kultur hat markante Einschnitte erfahren müssen, sondern auch der Übergang vom Wissenshort und Lernmittel Buch zum Digitalen. Mit dem Durchbruch der Digitalisierung könnte ebenso die Bedeutung der mündlichen Kommunikation abnehmen. Die Ära, in der Generationen von Menschen sich ihr Wissen über Sagen und überlieferte Geschichten angeeignet haben, würde so weitgehend der Vergangenheit angehören. Die kulturgeschichtliche Erhöhung des Computers – einhergehend mit der Digitalisierung – kommt einer Zäsur gleich. Heute findet Kommunikation auf einer digitalen Ebene statt, deren konsequente Folge die Vernetzung ist. Die mündliche Kultur, die über Jahrhunderte die Menschheit geprägt hat, wird abgelöst von der digitalen Kultur, mit der heutige und zukünftige Generationen selbstverständlich aufwachsen. Die Kultur des (Vor-)Lesens und der sprachlichen Face-to-Face-Kommunikation, die dazu beigetragen hat, den Geist der Menschheit zu formen, könnte an Stellenwert verlieren. Die digitale Lesekultur bringt digitale Gehirne hervor, die in den Räumen der Globalisierung zentrale Bedeutung haben.
Die Ansprüche an Lernende sind heute völlig andere als noch vor 30, 40 Jahren. Vertiefendes Wissen und Genauigkeit scheinen unter den digitalen Bedingungen weniger Priorität zu haben. Der Schwerpunkt liegt auf einer Informationseffizienz, aus der eine neue Form der Rationalität hervorgeht. Das digitale Gehirn wird mit minimalen Informationen angefüttert. Die Fähigkeit zum Umgang mit komplexen Sachverhalten, das Sich-Einarbeiten und -Einlassen auf schwer zugängliche Themenfelder, scheint dem digital Lernenden immer weiter abhandengekommen zu sein. Der Mensch folgt nicht mehr seinen inneren Schlüsselideen, sondern einem konfusen Informationsfluss und gibt damit ein Stück seiner Souveränität und Eigenständigkeit ab. Der Rückgang der mündlichen Kommunikation verändert somit den gesamten sozialen Prozess der Verständigung – aus der Verständigung jedoch resultiert das Verstehen. Jede Sprechhandlung ist auch eine soziale Handlung, der eine bestimmte Absicht zugrunde liegt.1
Da die Neuen Medien eine Schlüsselrolle in der Informations- und Wissensgesellschaft spielen, definiert sich der Mensch neu, um zukunftsfähig bleiben zu können. Die Aneignung neuer Kulturtechniken beinhaltet auch das Überdenken der eigenen Kultur.
Mit der digitalen Medienintegration in Schulen ist es auch zu einer Verschiebung der kulturellen Praxis im Umgang mit Informationen gekommen. Das Zusammenspiel von Mensch und Computer hat dazu geführt, dass traditionelle Kulturtechniken zeitlich und räumlich einen Wandel vollzogen haben, in dem sich das kommunikative Sprachvermögen von Gesellschaften neu formiert hat. Diese kommunikative Form der Kultur gibt nicht nur Orientierung, sondern transportiert unmittelbar Werte und Wissen. Ähnlich verhält es sich mit den veränderten Kulturtechniken beim Lesen und Schreiben, deren Auswirkungen vor allen Dingen in Fragen zu Bildung und gesellschaftlicher Sozialisation zum Ausdruck kommt. Bei der vernetzten Digitalisierung handelt es sich um einen kulturellen Transformationsprozess, der im wissenschaftlichen Kontext eine ganz neue Gewichtung erhält und thematisch neue Schwerpunkte setzt.
Inzwischen werden die Diskussionen um die Vermittlung digitaler Bildung in Schulen weniger spekulativ geführt, da auch im wissenschaftlichen und bildungspolitischen Umfeld die Erkenntnis eingekehrt ist, dass es sich bei einer Auseinandersetzung mit dem Einfluss digitaler Medien auf das schulische Lernverhalten nicht um ein einseitig zu untersuchendes Phänomen handelt, sondern um ein breit gefächertes interdisziplinäres Forschungs- und Handlungsfeld. Es geht nicht mehr nur um die wissenschaftliche Untersuchung, wie sich medienkompetentes Lernverhalten im schulischen Umfeld umsetzen lässt, sondern auch darum, wie sich das geänderte digitale Nutzungsverhalten auf das Kommunikationsverhalten von Lehrenden und Lernenden gesellschaftlich und kulturell auswirkt. Die Nutzung digitaler Medien erfordert von den Lernenden eine eigene spezifische sprachbasierte Kompetenz, die sowohl beim Lesen als auch beim Interpretieren und Einordnen von Texten unabkömmlich ist.2
Gegenwärtig stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob sich die Nutzung der Neuen Medien weiterentwickeln wird, sondern es geht konkret um das Wie. Wie lassen sich Medienkompetenzen von Schülern miteinander verorten, sodass Lernende sich aktiv in den Prozess der Mediengestaltung im Unterricht einbringen können und dabei gleichzeitig die mediale Kompetenz innerhalb der Mediengesellschaft erhöht werden kann? Wie lassen sich digitale Einzelkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Navigieren, die alle ein Geschick für Semiotik und Codes voraussetzen, mit der Komplexität von sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten kombinieren?3 Wie können kommunikative Kompetenzen erworben bzw. erweitert werden, um in der heutigen Medienkultur den Lernenden erfolgreich in Rezeptionsprozesse zu lenken, die zum Verständnis und zur selektiven Auswahl von Informationen führen?
Die Etablierung digitaler Medien im Unterricht löst zunehmend auch bisherige Kommunikationsbegrenzungen in Raum und Zeit auf und führt somit zu einer Expansion von Kommunikationsmöglichkeiten über die Institution Schule hinaus. Das hat zur Folge, dass die Neuen Medien interpersonale Aktivitäten anders definieren. Die traditionellen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben (und Rechnen) sind zwar weiterhin das Fundament für den Gebrauch digitaler Medien, doch die Kunst wird zukünftig darin bestehen, diese innerhalb der neuen Kommunikationsbedingungen und -formen sichtbar zu machen.4 Das bedeutet, dass nichtmediale mit medialen Aktivitäten zunehmend verschmelzen werden, was wiederum voraussetzt, dass alle Beteiligten sich an Medienregeln wie Werte, Formate und Routinen anpassen.5 Digitale Medien sind nicht nur das Werkzeug, sondern das Medium im weltweiten Netzwerk, aus dem sich ein globales Wertesystem herausbildet. Dadurch könnte sich auch ein neuer Kulturbegriff bilden, in dem Identität gekoppelt ist an die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse.
Mit der Digitalisierung haben sich auch die kulturellen und sozialen Werte in der Gesellschaft verändert, in der sich vor allen Dingen die westlichen Wertvorstellungen und Lebensstile durchsetzen. Die Dynamik der vernetzten mediatisierten Gesellschaft schreitet unaufhaltsam und rasant voran, und es zeigt sich, dass die Komplexität der digitalen Medien nicht mehr mit technischem Wissen erfahrbar gemacht wird – die Gesellschaft erobert sich die Medienwirklichkeit spielerisch. In den offenen Strukturen der digitalen Welt werden soziale Hierarchien durch heterachische Netzwerkkulturen abgelöst. Es ist eine wissenschaftliche Herausforderung, interdisziplinär herauszuarbeiten, welche Phänomene, Prozesse und Dynamiken hinter einer Mediengesellschaft liegen und wie sich diese auf die Wirklichkeitsordnung im Alltag auswirken. Übertragen auf die Kommunikationsumgebungen von Kindern und Jugendlichen im schulischen Umfeld ist die Mediatisierung noch stärker fortgeschritten als in der sogenannten Erwachsenenwelt.6
1 Vgl. Reichartz, Jo: Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation und was vermag sie? Und weshalb vermag sie das? VS, Wiesbaden, 2009, S. 103. ↩
2 Vgl. Wagner, Franc; Kleinberger, Ulla (Hrsg.): Sprachbasierte Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen. In: Sprache in Kommunikation und Medien (SKM). Band 5. Lang, Bern, 2014, S. 15. ↩
3 Vgl. ebd., S. 40. ↩
4 Vgl. ebd., S. 94. ↩
5 Vgl. Schulz, Winfried: Reconstruction Mediatization as an Analytical Concept. In: European Journal of Communication, Vol. 19, 2004, S. 87–101. ↩
6 Während bei Jugendliche digitale Medien nicht mehr wegzudenken sind (98% sind nahezu täglich online, vgl. DIVSI-U25-Studie v. 2015), stehen 90 % der „Mid-Ager“ (30–59 Jahre) dem digitalen Wandel mit Unbehagen und Skepsis gegenüber. Bei der „Generation Mitte“ ist die digitale Teilhabe auch viel stärker von sozioökonomischen Kriterien abhängig (vgl. Allensbach-Umfrage „Generation Mitte“ vom 4. November 2014. ↩