Dialektik von Misstrauenskultur in Digitalisierung von Bildung

Die wachsende Misstrauenskultur in der Digitalisierung der Bildung innerhalb der Institution Schule offenbart sich in einem diffusen Ausdruck von Ängsten derjenigen, die am Bildungssystem unmittelbar beteiligt oder von diesem abhängig sind. Hier mögen auch soziologische Motive wie eine diffuse Angst vor einem Verschwinden von Kindheit durch digitale Innovationen und einem damit in Zusammenhang hypothetisierten Kulturverfalls der Gesellschaft eine Rolle spielen.

Ebenso kostet Bildung in der vernetzten Welt Geld, verlangt signifikante Investitionen der Bildungsgestalter in den Bereichen Infrastruktur, Sachmittel und Fortbildung. Und es sind didaktische Konzepte notwendig, die Grundlagen dafür schaffen sollen, interaktives Lernen in Schulen umzusetzen. Lehrmittel und Lerninhalte müssen multimedial aufbereitet werden und frei zugänglich sein. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, um im internationalen Bildungswettbewerb mithalten zu können. Doch das deutsche Bildungssystem ist meilenweit davon entfernt, jungen Menschen aus bildungsfernen, schwierigen sozialen Milieus eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildung zukommen zu lassen. Besonders problematisch ist die Uneinigkeit der Bundesländer im gemeinsamen Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit. Die Unfähigkeit der Politik, sich auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen einzustellen, ist schwer zu ergründen. Immer noch gibt es keine bundesweiten einheitlichen Standards, die eine wichtige Voraussetzung dafür schaffen können, Kinder und Jugendliche im Schulsystem die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen. Obwohl allen Beteiligten die Priorität von Bildung bewusst ist, sind immer noch 15 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen dauerhaft aus dem Bildungssystem ausgeschlossen. Bildung und Erziehung ist in den vergangenen 50 Jahren zunehmend vergesellschaftet worden, mit der Folge, dass Kinder und Jugendliche heute einen Großteil ihrer Lebenszeit in schulischen Einrichtungen verbringen. Mit dem Ausbau von Ganztageseinrichtungen hat der Staat bei vielen Familien die Hoffnung geweckt, allen Schülern gleiche Startbedingungen auf dem Weg ins lebenslange Lernen zu ermöglichen. Das ist Theorie.

Wie viel Fürsorge trägt der Staat für seine Kinder? Schulen haben nicht mehr nur einen Bildungsauftrag zu erfüllen, sondern übernehmen auch noch Erziehungsaufgaben. Aufgrund chronischer Finanznot der Länder können keine zusätzlich benötigten Fachkräfte eingestellt werden, sodass Schüler sich zwar täglich im schulischen Umfeld aufhalten, aber außerhalb des Unterrichts wenig Unterstützung beim Erlernen notwendiger Kompetenzen erfahren. Der Einfluss der Eltern auf die Bildungsentwicklung ihrer Kinder nimmt in dem Moment ab, in dem Bildungs- und Lehrpläne vorgeben, wann und wo gelernt wird. Einblicke und Eingriffe in dieses System sind nicht erwünscht. Bildung steht in der öffentlichen Verantwortung, doch die angekündigten Leistungen sind bislang selten eingelöst worden. Die Schulen stehen vor einem Dilemma. Verantwortungsvolle pädagogische Arbeit ist jedoch nur dann zu leisten, wenn eine fachgerechte Aus- und Fortbildung im Hinblick auf die veränderten Lehr- und Lernbedingungen erfolgt ist. Wenn Bildung und Erziehung im schulischen Kontext nur unzureichende Erfolge vorweisen kann, gerät das Vertrauen der Gesellschaft in den Staat und die staatlichen Institutionen ins Wanken. Die Gerechtigkeitsformel scheint nicht aufzugehen, und damit ist Angst verbunden: Angst bei den Lehrern, die sich dem komplizierten Bildungsauftrag nicht mehr gewachsen fühlen. Angst bei den Schülern, die zwar in und mit der digitalen Welt aufwachsen, denen aber der Zugang zu einer umfassenden zukunftsorientierten Bildung verwehrt bleibt, weil der Staat versagt. Angst bei den Eltern, die dem demokratischen Prinzip Glauben schenken wollen und nun zusehen müssen, wie das Versagen des Staates auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen ausgetragen wird. Und letztlich ist es die Angst des Staates, zu wissen, dass der Weg in eine gesicherte Zukunft nur dann gelingt, wenn Bildung und lebenslanges Lernen nicht nur eine Floskel bleibt, sondern sich in den Köpfen der Gesellschaft verankert hat.

Ist die Angst berechtigt, dass das Bildungswesen die Stabilität und den Wandel der Gesellschaft so stark beeinflussen kann, wenn sich das soziale Ungleichgewicht in der Institution Schule weiterhin so negativ entwickelt? Seit den Sechzigerjahren setzt sich die Bildungsforschung mit dem Thema der Chancengleichheit auseinander. Doch alle bildungspolitischen Aktivitäten dieser Zeit scheiterten und führten zu der Illusion, dass die Bildungsreform zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen könne. Das politische und öffentliche Interesse an Bildungsforschung und Bildungssoziologie nahm in diesen Jahren rapide ab und gewann erst Ende der Neunzigerjahren wieder an Aufmerksamkeit, als die Wirtschaft erstmals über einen Fachkräftemangel klagte und die TIMSS-Studien die deutlichen Bildungsdefizite von Schülern aufzeigte. Mit der PISA-Studie 2001 offenbarte sich massiv, dass Kinder in Deutschland auch weiterhin aufgrund ihrer Herkunft sozialer Ungleichheit ausgesetzt sind. Seitdem ist das Thema wieder zentral in den öffentlichen Fokus gerückt.

Die öffentlichen Diskussionen um den Stand des deutschen Bildungssystems führen dazu, den allgemeinen Bildungsbegriff neu zu definieren. In diesem Zusammenhang lässt sich die „Theorie der Halbbildung“ von Theodor W. Adorno anführen, der in seiner Aktualität – wenn auch kulturpessimistisch geprägt – beeindruckend ist. In der Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff verweist Adorno in seiner Schrift auf den dialektischen Charakter von Bildung, die immer schon versucht hat, die Gesellschaft zu „heilen“, es aber nicht kann. Nach Adorno partizipieren nur noch wenige Menschen, die sich selbst zur Elite zählen, die reine Bildung. Reine Bildung muss vor dem „Andrängen von außen“ geschützt werden, damit sie nicht für andere Zwecke instrumentalisiert werden kann. Adorno hat seinen Bildungsbegriff für eine autonome Gesellschaft sehr weitläufig angelegt: „Bildung sollte sein, was dem freien, im eigenen Bewusstsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirkenden und seine Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme. Sie galt stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft: Je heller die Einzelnen, desto erhellter das Gan-ze.“ Mit dem Einzug der Halbbildung in das bürgerliche Milieu hat Bildung ihre kritische und autonome Kraft verloren, was sich durch die Mediatisierung der Welt noch verstärkt. Adorno proklamiert, dass mit dem Zeitalter der Massenmedien nur noch diejenigen Menschen in den Genuss von Bildung kommen, die sich von diesem Zeitphänomen nicht erfassen lassen. Während reine Bildung gleichzusetzen ist mit Differenziertheit, verfügt Halbbildung über kein kritisches Potenzial. Das deutsche Bildungssystem ist zunehmend auf Vereinheitlichung ausgerichtet, in dem – folgt man Adorno – Bildung deformiert wird durch die Vereinnahmung für gesellschaftliche Zwecke. Der Widerspruch steckt im Detail: Denn damit die Bildungsidee den Spielregeln der Selbstbestimmung entsprechen kann, muss sie sich erst einmal der vorgegebenen sozialen Ordnung angliedern. Das bedeutet, dass sich Bildung nach den Regeln der gesellschaftlichen Nutzbarkeit zu richten hat, um sich als Individuum möglichst schnell den politisch-ökonomischen Prozessen anzupassen. Der eigentliche Zweck der Halbbildung ist die Hervorbringung des „Humankapitals“, wobei das derzeitige Schulsystem ihrer Struktur nach eine Instanz ist, die an der Produktion der Halbbildung mitwirkt. Adorno hat vor mehr als 55 Jahren die „Entmenschlichung“ des „kapitalistischen Arbeitsprozesses“ zur Erläuterung seiner Theorien angeführt, weil den Arbeitenden der Zugang zur Bildung verweigert wird. Heutzutage sind es scheinbar PISA-Studien und Evaluierungen, die über die Zukunft der nächsten Generationen entscheiden. Diese Erkenntnis ernüchtert.

Quellen:

Tulodziecki, Gerhard: Medien in Erziehung und Bildung. A. a. O., S. 116. http://www2.uni-paderborn.de/fileadmin/kw/institute-einrichtungen/erziehungswissenschaft/arbeitsbereiche/herzig/downloads/tulodziecki/Stuttgart.pdf, S. 2.
Der Autor von „Das Verschwinden der Kindheit“ Neil Postman im ZEIT-Interview: http://www.zeit.de/1998/16/Wenn_die_Kindheit_verschwindet/komplettansicht
Bertelsmann-Studie Chancengerechtigkeit https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2014/dezember/bildungschancen-stark-abhaengig-von-sozialer-herkunft-und-wohnort/ und http://www.chancen-spiegel.de.
Bildungsbericht der Bundesregierung: http://www.bildungsbericht.de/daten2012/bb_2012.pdf
Vgl. Sommerkorn, Ingrid N.: Soziologie der Bildung und Erziehung. In: Korte, Hermann; Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Einführung in spezielle Soziogien. Opladen, 1993, S. 29–55.
Anmerkung: Ziel von TIMSS ist es, öffentlichen Institutionen über die Wirksamkeit von Lehrplänen und Unterrichtsmethoden zu berichten und daraus Schlüsse zu ziehen, die zu einer Verbesserung des Lehrens und Lernens in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften beitragen können.
Löw, Martina: Einführung in die Soziologie der Bildung und Erziehung. Opladen, 2003, S. 14.
http://www.presseschauder.de/adorno-theorie-der-halbbildung/. Letzter Zugriff: 6. März 2017.
Vgl. Adorno, Theodor W.: Theorie der Halbbildung. Suhrkamp, Frankfurt/Main, 2006, S. 97ff.
Anmerkung: Adorno vertritt Hegels und Humboldts Bildungsdialektik. Bildung findet immer zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft und jenen des Individuums statt und ist reiner Selbstzweck (sic!). Seine Theorie der Halbbildung ist ein Pamphlet gegen das auf kommerzielle und administrative Zwecke zugeschnittene amerikanische Social Research. Adornos Kulturpessimismus ist nur vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Dritten Reiches zu verstehen. Die Naziherrschaft über Bildung und Kultur war für ihn ein nachhaltiges Schockerlebnis, der sich in dem Halbbildungsbegriff manifestiert. Vgl. Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Piper, München, 2008

Veröffentlicht von

Dr. Kai Pöhlmann

Dr. Kai Pöhlmann ist Inhaber der ABACUS Nachhilfe Institute Hamburg und Kreis Pinneberg und Gründer des ersten ABACUS-Nachhilfeinstitutes nördlich der Isar. Google+

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