Die Bertelsmann-Stiftung hat wieder den jährlichen Chancenspiegel veröffentlicht, welcher „Bildungsgerechtigkeit“ und „Leistungsstärke“ des deutschen Schulsystems vergleichend betrachtet. Zusammenfassend kommt auch der diesjährige Bericht zu dem Ergebnis, dass Bildungschancen für Schüler stark von sozioökonomischen Faktoren abhängig sind. Wie auch schon im Chancenspiegel 2013 und 2012. Und das trotz aller Anstrengungen der Politik.
Viel Geld wird von den Bundesländern pro Jahr pro Kopf eines Schülers ausgegeben. Kam man vor wenigen Jahren in einem hoch differenzierten Schulsystem mit ca. € 5.000,– pro Jahr je Schüler aus, explodieren die Kosten pro Schüler geradezu: Allein in Hamburg stiegen die Kosten pro Schüler an allgemeinbildenden Schulen innerhalb nur eines Jahres von € 7.600,– (2010) auf € 8.100,– (2011). Und das bei in Hamburg durchaus steigenden Schülerzahlen, was ja eigentlich zu einer proportionalen (leichten) Kostensenkung je Schüler führen müsste.
Ebenso sollte man meinen, dass die Auflösung differenzierter Beschulung im Sekundarbereich zugunsten Gesamt- und Einheitsschulen hier auch eher zu Kostenreduktionen führen müsste (es muss ja nur noch ein Hausmeister und ein Rektorenzuschlag bezahlt werden). Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Die Ganztagsbetreuung war 2011 erst am Anfang und auch die Inklusion war noch nicht umgesetzt.
„Erstaunlicherweise“ haben die Bundesländer, welche noch stark selektierende und differenzierende Schulsysteme unterhalten (Bayern), die geringsten Schulabbrecherquoten zu verzeichnen: Lediglich 4,9% der Schüler verlassen Schulen ohne Abschluss (Daten Bayern S. 66ff.). In Hamburg sind es 6,7%.
Der „Chancenspiegel“ stellt fest, dass schulische (Bildungs-) Chancengerechtigkeit nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Anspruch betrachtet werden kann, also den „funktionalen Beitrag von Schule zur Reproduktion von Gesellschaft“ anerkennt (vgl. S. 12 Langfassung). Und er bekennt klar den ökonomisch-vorbereitenden Charakter eines gesellschaftlichen Schulsystems zur leistungsorientierten (sic!), beruflichen aktiven Teilhabe an Gesellschaft (ebenda).
Also soll Schule als gesellschaftlich unterhaltenes Bildungslabor leistungsorientiert und beruflich qualifizierend agieren und hat eine „Allokationsfunktion“ (ebenda).
So weit, so gut. Aber wie wird in der Studie „Schulleistung“ gemessen? Es werden Schulabschluss- und Abiturquoten vergleichend gegenüber gestellt, obwohl bekannt sein dürfte, dass die Bundesrepublik Deutschland unter dem Primat des Bildungsföderalismus Schulbildung unterschiedlich ausgestaltet und sich so schulisch abverlangte Anforderungen schon innerhalb eines einzelnen Unterrichtsfaches signifikant unterscheiden. Das bereits kleinteilig in den Regionen und in den Schulen innerhalb einzelner Bundesländer.
Nicht nur die jeweiligen Abiturquoten unterscheiden sich deutlich: In Hamburg erreichen mittlerweile zwei Drittel der Schüler die allgemeine Hochschulreife. Sagt das etwas über schulische Qualität oder die – gesellschaftlich erwartete – Leistungsfähigkeit der Schulabgänger aus?
NEIN. Denn eine solche Quote ist schlicht ein quantitativer (mengenmäßiger) und kein qualitativer Wert. Die „Leistungsfähigkeit“ des verliehenen Bildungsabschlusses offenbart sich erst erst bei aktiver Teilhabe der Aktanten im Leistungssystem der Bildungs- und Netzwerkgesellschaft.
Dieser könnte bei Abiturienten zum Beispiel durch die Korrelation mit den Studienabbrecherquoten in den verschiedenen Studiengängen hergestellt werden. Oder die Anzahl unbesetzter Ausbildungsplätze auf der Zeitachse betrachten. Was der Chancenspiegel nicht tut. Die Diskrepanz zwischen politisch gewollt hohen Abi-quoten und tatsächlicher Studienreife würde wohl zu augenfällig werden. Mal abgesehen davon, dass eine hohe Abiturquote ohnehin niemals ein Indikator für hohe Kompetenz des Individuums wäre.
Wirkliche „Schulleistungsmessung“ im Sinne von erworbenen, basalem Fachwissen des schulischen Fächerkanons findet im Chancenspiegel lediglich rudimentär in einer Dimension durch die Gegenüberstellung der Mathematik-Kompetenzdaten statt, welche das große Leistungsfälle i.S. erworbenem, gesellschaftlich verwertbaren Wissens allenfalls erahnen lassen.
Ein in Deutschland erworbener Schulabschluss ist also nach wie vor leider nicht eine valide, öffentliche und objektive Zertifizierung von Allgemeinbildung auf einer jeweiligen vorgegebenen Stufe, sondern determiniert bei gleichen – nur scheinbar vergleichbaren – Schulnoten im Fach – je nach Bundesland, Region, Schule und gar nach Lehrer – jeweils differente, individuelle Wissensstände der Subjekte.
Dieses wiederum wird den Fokus der Leistungsgesellschaft auf den sozioökonomischen Hintergrund eines Schulabgängers und die damit verbundene Selektion der freien Wirtschaft wohl eher verschärfen. Die Politik könnte dann – ähnlich wie bei Frauen in Aufsichtsräten oder Schwerbehinderten – zu sanktionierenden Regularien und Quotierungen greifen, anstatt die Problematik – wo möglich – an der Wurzel anzugehen. Es bedarf des Korrektives an der Ursache, nicht an den Wirkungen.
Es reicht nicht, Chancengerechtigkeit – in Ambivalenz zur fiktiven und irrationalen Chancengleichheit – lediglich klar zu definieren. Es muss dann auch in möglichst objektive, extern nachprüfbare und valide schulische Leistungskriterien gegossen werden. Und das schon aus Gründen der Objektivität ohne Ansehen von (sozialer) Herkunft, Religion, Familienstatus und Kultur der Subjekte.
Warum: Weil schulische Bildung des Individuums unter anderem von Variablen abhängig ist, welche Schule als gesellschaftliche Bildungsinstitution so derzeit trotz aller Anstrengungen nicht signifikant beeinflussen kann. Dazu müssten wohl andere Maßnahmen im gesellschaftlichen Kontext beschlossen werden.
Der Chancenspiegel 2014 ist jedoch bei aller Kritik eine fundierte Schuldaten-Zusammenfassung für den am Bildungssystem Schule Interessierten, offenbart jedoch vieles erst „zwischen den Zeilen“.
Die Verweise beziehen sich auf die 388 Seiten der Langfassung der Studie. Der Chancenspiegel 2014 in der Kurz- und Langfassung für den Selbstleser hier.