Die Regelschulen werden in unserem Kulturprogramm als Bildungsstätten wahrgenommen. Die Gesellschaft unterhält diese (ja, auch die Privatschulen!) mit öffentlichen Geldern, damit Kindern zweckdienliche Bildung vermittelt werden möge, so dass diese Kinder nach Beendigung der Schulzeit aktiv gestaltend am Gesellschaftsprozess teilnehmen können.
In der Bundesrepublik Deutschland ist Schulbildung durch die Gesellschaft auch sauber im Aristoteles’schen Sinne deduktiv herzuleiten: Es steht schlicht im Grundgesetz Art. 7. Als Randerscheinung fällt beim Lesen ins Auge, dass der Staat gar keinen (juristisch direkt herzuleitenden) Erziehungsauftrag hat oder einen solchen gar de jure mit Schule verbinden kann – dieser liegt nach wie vor bei den Eltern, vgl. Art. 6 GG. Aber das Schulwesen als Solches hat er fest im Griff. Und das ist – versteht man Gesellschaft als gemeinsames Projekt – auch gut so.
Darüber, was der Begriff „Bildung“ unter schulischer Prämisse beinhaltet oder nicht beinhaltet, haben wir uns hier schon im Nachhilfe-Blog ausführlich auseinander gesetzt. Angefangen bei Wilhelm von Humboldt’s humanistischem Bildungsideal über die Habermas’sche „Kritische ICH-Identität“ über die Begrifflichkeiten von Schulbildung unter wissenschaftspädagogischer Betrachtung inklusive der Beschäftigung mit den Begrifflichkeiten Erziehung, Wissen, Lernen und – last but not least – des hochgradig strapazierten Begriffes der „(individualisierten) Kompetenz„.
Eigentlich ist der Begriff „Bildung“ in wissenschaftlicher Auslegung ja ein Paradoxon. Ein kleiner Schlingel, welcher sich nur schwerlich wissenschaftlich klar quantifizieren und zu dem sich schwer eine „herrschende Meinung“, ein Konsens bilden lässt. Denn er sucht die Klammer zwischen größtmöglicher Entfaltung des Individuums und gesellschaftlicher Nützlichkeit herzustellen, was zwangsläufig nur misslingen kann. Denn häufig erreichen jeweilige Zielvorstellungen hier keine Deckungsgleiche zwischen individuellen und gesellschaftlichen Ansprüchen.
So manifestieren sich wissenschaftliche Definitionen im Versuch der Berücksichtigung beider Pole: „subjektivitätskonstituive und gesellschaftlich notwendige und erwartete Bedeutung von Bildung“.
Diese Uneindeutigkeit ist letztlich auch mit Auslöser „unendlicher Geschichten“ im Bildungsdiskurs gerade in modernen, offen und nicht totalitär ausgestalteten Gesellschaften, welche ja gerade der Individualität des Individuums hohe Priorität einräumen.
Schwierig wird es, wenn der Individualitätsnarrative im allgemeinen Bildungswesen einer Gesellschaft höhere Priorität eingeräumt wird. Denn konsequent zu Ende gedacht, könnte das unter Umständen Prosperitätsbestrebungen von Gesellschaft als Ganzes entgegen wirken.
Was uns zum erziehungswissenschaftlichen Begriff der Bildungsgerechtigkeit führt. Dieser geht auch bildungspolitisch – wie könnte es anders sein – zunächst vom klassischen „suum cuique“ aus: Jedem das Seine. Was sich an Regelschulen an vielen Aspekten beobachten lässt: Sonder- und Doppelbesetzungen, individuelle Nachteilsausgleiche, spezielle Fördermaßnahmen, unterschiedliche Benotungen von Leistungen duch die Lehrer-Innen. Ja, die GEW setzt sogar Bildungsgerechtigkeit mit Chancengleichheit gleich und verortet strukturelle Benachteiligung von MigrantInnen.
Mitunter wird Bildungsgerechtigkeit auch mit Bildungsgleichheit synonymisiert: Das Heil zur Beseitigung von Bildungs-Ungerechtigkeiten läge ausschließlich im längeren, gemeinsamen Lernen der Kinder. Den Geschichtsbewanderten erinnert diese Forderung unweigerlich ein Stück weit an ein „back to the roots“: Das Rad der bisherigen pädagogischen Entwicklung wieder zurückgedreht und zurück zum preußischen Volksschulwesen, der „Schule für Alle“ im 19. Jahrhundert?
Denn letztendlich haben die Säkularisierung und die gewandelten differenzierten gesellschaftlichen Anforderungen der Moderne und Postmoderne (gesellschaftlicher Wandel und Globalisierung) die Divergierung der Einheitsschule im Kernland Mitteleuropas schlicht nötig gemacht. Denn es ist davon auszugehen, dass ein Gemeinwesen über den Handlungsapparat der öffentlichen Verwaltung nicht ganz freiwillig in ein teureres, mehrschichtiges Bildungswesen investieren mag.
Daraus resultierte dann letztlich das wegen vermeintlicher Manifestierung alten Standesdünkels und sozio-ökonomischer Disparitäten postmodern geschmähte sogenannten dreigliedrige Schulsystem mit vielen Querarmen und Verästelungen, welches letztlich sowohl der Individualisierung, als auch gesellschaftlich notwendigen differenzierten Anforderungen versuchte, gerecht zu werden.
Das Bildungsgerechtigkeit schulisch nicht mit Chancengleichheit gleichgesetzt werden kann, hat J. Giesinger schon 2007 deutlich und klar hergeleitet (vgl. ZfP 53/3, 2007, S. 363). Es sollten eher jedem „objektiv“ gleiche Bildungsmöglichkeiten offen stehen.
Die Crux liegt hier in dem, was Schule (positiv) beeinflussen kann und was nicht. Der Staat als administrativer Träger des meritokratischen Gutes „Bildung“ kann das „Eingangsmaterial“ der Schüler und Schülerinnen zum Beispiel in Bezug auf sozio-ökonomische Faktoren in unserer immer heterogener und multikultureller werdender Gesellschaft weder in, noch außerhalb der Institution Schule immer weniger steuern (was notwendigerweise mit auch in die heute möglichst lückenlose öffentliche Betreuung von der Krippe bis zum Abitur, nach Möglichkeit im Ganztag, mündete).
Auch und gerade deswegen scheinen aktuelle schulische Bildungsbemühungen stets unter dem Fokus besonderer Bedarfe von Individuum und Gruppen zu stehen, welche durch das Schulsystem unter dem Paradigma von Chancengleichheit als scheinbar Benachteiligte von Schulbildung dastehen: Migrantengruppen, Empfänger von Leistungen nach SGB, Inklusionskinder, Gleichgeschlechtliche, Mädchen und auch Jungen. Je nach Wochentag und politischen Mehrheitsverhältnissen scheint gerade ein anderes Tagesgericht auf dem deutschen bildungspolitischen Kantinenplan zu erscheinen: In Hamburg sind es gerade einmal die Gehörlosen, denen mit der Einführung eines Schulfaches an Regelschulen Rechnung getragen werden soll. Der Anteil gehörloser Schüler in Hamburg liegt bei unter einem halben Prozent der Gesamtschülerschaft.
Einzeln betrachtet, mag man natürlich keiner dieser Fördermaßnahmen die Berechtigung absprechen, schon alleine, um menschenfeindliche Unterstellungen zu vermeiden… Aber unter dem Axiom von Schule, gesellschaftliches Bildungslabor sein zu wollen, muss der gesamtgesellschaftliche Nutzen gerade unter dem Aspekt der Bildungsgerechtigkeit hinterfragt werden dürfen. Denn es geht in schulischer Bildung primär um objektive Chancengleichheit, nicht um subjektive.
Wird dieses nicht getan, so könnte Regelschule immer mehr von einer Wissens- und Bildungsanstalt zu einer Sozial-Integrationseinrichtung transformieren, in der der gesamtgesellschaftliche Aspekt von Bildung – Vorbereitung zur Teilnahme am gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozess – immer weniger Beachtung findet.
Das Regelschule diesen immer mehr aus dem Fokus verliert, erschließt sich dem aufmerksamen Betrachter der Gemengelage aus vielen Fakten: Abbruchquoten von Auszubildenden und Studierenden, zusätzliche nachschulische, aus Steuergeldern finanzierte Qualifikationsmaßnahmen im terziären und quartären Bereich (über 125.000 Jugendliche mussten 2013 nach der Schule auf Staatskosten nachqualifiziert werden) und vieles mehr. Die Folgekosten mangelnder Bildung beliefen sich nach einer Bertelsmann-Studie schon 2011 auf über € 1,5 Mrd und sind stetig steigend.
Vielleicht lohnt es sich, über einen Paradigmenwechsel von Regelschule und echte Bildungsgerechtigkeit in Gesellschaft nachzudenken und den Stand der Bildungsforschung im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit auch in politische Ausgestaltung von Schule (wieder mehr) einfließen zu lassen. Individualisierung unter der Narrative „Jedem das Seine“ alleine ist nicht unbedingt Grundverständnis von Bildungsgerechtigkeit, sondern gerade auch „Gleiches für Alle“. Und das an erster Stelle in der Institution Schule als von Gesellschaft alimentierter Bildungseinrichtung.
„Bildungsgerechtigkeit meint die optimale Ermöglichung einer wesensgemäßen und seinsgerechten Persönlichkeitsentfaltung
erstens für alle – also unabhängig von den unveränderlichen Merkmalen des Menschen allen das Gleiche zu garantieren – und zweitens für jeden Einzelnen – also ausgehend von den veränderlichen Merkmalen des Menschen jeden Einzelnen seinen Möglichkeiten entsprechend zu fördern“ (Zierer, Klaus: Gerechte Ungerechtigkeit, KAS 7/2015, Aug. 178, S. 4)