Vorgestern wurde von der Schulbehörde in Hamburg der neue Bildungsbericht für Hamburg vorgestellt. Und natürlich ist die politische Administration der Stadt voll des Lobes über die (Schul-)Bildungslage der Stadt. Einige Gedanken dazu, mit partiell leicht satirischem Goût:
Wir verwenden in der Regel die tradierten Begrifflichkeiten ohne Genderneutralisierungen und schließen damit auch die weibliche, männliche und die mittlerweile ca. 20 anderen bekannten Geschlechtsorientierungen mit ein. Das „x“ am Ende lassen wir im kleinen gallischen Dorf, wo’s hingehört ;-).
Die meisten Hamburger Schulen (98%) bieten den betreuten Ganztag an. Nicht, das die Schülerinnen und Schüler (oder genderkorrekt „Schülerix“. Ähnlichkeiten mit den kongenialen Schöpfungen aus Feder und Geist des René Goscinny und Albert Uderzo wären rein zufällig) auch nur eine Stunde mehr Unterricht hätten…
Aber die Schüler sind untergebracht. Mit tollem, abwechslungsreichen Nachmittagsprogramm. Klar, auch mit „lecker Mittagessen“ – wohl dem Schüler, dessen Schule über eine Produktionsküche verfügt… Und natürlich warten die Schulen auch mit dem gerade für eine Inklusion notwendigen Personalschlüssel beziehungsweise der zugewiesenen WaZ’s und entsprechendem Fachpersonal auf. Immerhin wurden laut Bericht 300 zusätzliche Schulbegleitungen zur Verfügung gestellt.
Von 2010 bis 2014 stieg die Zahl der Förderschüler nämlich von 8.559 auf fast 13.000 Schüler an, von denen sich nunmehr 58,2% an den Regelschulen und nicht mehr auf speziell auf die Bedürfnisse zugeschnittenen Sonder- oder Förderschulen befinden (Tab. 6.2-2 & 6.2-1, S. 71f.).
Und wo kommt der Anstieg her? Die Sonderpädagogen, die sich nun als „Springer“ lediglich stundenweise an den Regelschulen um Inklusion kümmern, haben offensichtlich und unerwartet in der kurzen Betreuungszeit von Ihrer Berufserfahrung Gebrauch gemacht und viel, viel mehr Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf diagnostiziert, als es die klassischen Regel-Lehrer festgestellt hatten, wie der Bericht auf S. 71 feststellt. Sh** happens… 😉
Interessant ist auch, dass Migrationshinweis von Schülern und sonderpädagogischer Förderbedarf zu korrelieren scheinen: Im arithmetischen Mittel steht dem Gesamtanteil von 39,2% der Migranten-Schülerschaft ein Anteil von 44,4% gesicherter sonderpädagogischer Förderbedarfsfällen gegenüber. Zuzüglich 16,7% „unentscheidbarer Fälle“ (S. 74).
Beide Kriterien korrelieren dann auch noch zusätzlich mit dem Empfang von Sozialleistungen und alle drei Kriterien kumulieren noch zusätzlich in ganz bestimmten Regionen Hamburgs. Die Karte auf S. 76 gibt Aufschluss. Das ist allerdings keinesfalls sarkastisch zu kommentieren, sondern unseres Erachtens ein Alarmsignal!
Überhaupt bleibt der Begriff „Migrationshinweis beziehungsweise -hintergrund“ leider nach wie vor unspezifisch und wird nicht nach Ethnien getrennt dargestellt. Lediglich die Türkei, Polen und die ehemaligen GUS werden genannt (vgl. S. 21). Der Anteil von zum Beispiel 10-jährigen Migranten liegt in Hamburg bei nahezu 50% (vgl. Abb. 2.2-2, S. 23). Umso erstaunlicher, denn die Daten werden erhoben und sind bekannt: Im Rahmen der KESS-Sozialindex-Erhebung werden die zu Hause von Deutsch abweichenden gesprochenen Sprachen erfasst, ebenso wie die Herkunftsländer der Mütter und Väter.
Und weil’s hier passt: Wen es schon immer interessiert hat, welchen KESS-Sozialindex (1 ist niedrig – 6 ist hoch) die Hamburger Schule der eigenen Kinder hat, hier mal die Liste zusätzlich mit den Einstufungskriterien nach dem Bourdieu-Theorem.
„Migrationshintergrund“ ist sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftspolitisch im Hinblick auf Integrationsanforderungen eine pauschalierende Begrifflichkeit, denn sie lässt so als Gesamtanteil keinen weiteren Erkenntnisgewinn in Bezug auf Maßnahmen zu. Unterschiedliche Ethnien integrieren sich unterschiedlich und haben auch auf Grund des eigenen kulturellen Hintergrundes individuelle Bedarfe. Es kann einen Unterschied machen, ob ein chinesischer, französischer oder ein kleinasiatischer Migrationshintergrund bei Schülern vorliegt. Kinder aus unterschiedlichen Kulturen adaptieren im Bildungssystem unterschiedlich und erfordern jeweils unterschiedliche schul- und bildungspolitische Handlungen.
Die Hauptlast der politisch so gewollten Inklusion tragen die Grund- und Stadtteilschulen in bestimmten Regionen. Ein Abitur an einer Stadtteilschule ist zwar mit dem Abschluss eines Hamburger Gymnasiums gleichgesetzt, aber wohl doch nicht vergleichbar: Die Rückstände betragen noch in der Oberstufe zum Beispiel im Fach Mathe bis zu einem Jahr (vgl. S. 11). Platt kann man sagen, dass die „besten“ Stadtteilschüler-Abiturienten unter Berücksichtigung der KESS-Faktoren kumuliert in etwa das Kompetenz-Niveau der „schlechtesten“ Gymnasiasten mit hoher sozialer Belastung erreichen (Vgl. S. 102f.). Eine Ausnahme bilden Kompetenzen im Fach Englisch.
Nochmals zur Klarstellung: Die Stadtteilschulen tragen auch die Last der Inklusion in der Sek. I, haben die höhere Migrationsquote und nur 5% Schüleranteil mit Gymnasialempfehlung. Dieses wird auch offensichtlich durch die um ein Schuljahr verlängerte Laufzeit nicht ausgeglichen.
Die Abiturquote beträgt mittlerweile fast 60% (tab. 9.1-1, S. 107). Gerade an den Stadtteilschulen ist die Abiquote von 2011 bis 2013 um 25% angestiegen, an den Gymnasien im gleichen Zeitraum nur um 0,57% (vgl. Abb 9.1-2, S. 108).
Das legt in Korrelation mit den Wissens- und Kompetenzergebnissen aus LAU und KESS nahe, dass die Abiture an Gymnasien und STS trotz „Zentralabitur“ offensichtlich „unterschiedlich“ sind, um es mal euphemistisch auszudrücken.
Weitere gesellschaftliche Aspekte einer hohen Abiturquote sind so die schleichende, generelle Entwertung des Abschlusses an sich: Ein Alleinstellungsmerkmal jedenfalls ist das Abiturium in Hamburg nicht mehr. Es ist ethisch, hehern und daher auch politisch erstrebenswert, jedem Kind gleiche Schulbildungsvoraussetzungen anzubieten. Dieses jedoch in Form gleich(-wertiger) Schulabschlüsse zu tun, beachtet nicht die Folgen, welche sich unter anderem dann in über 80%-igen Studienabbruchquoten gerade in den von uns gesellschaftlich so benötigten MINT-Fächern niederschlagen. Und auch Hochschulen und Universitäten fangen an sich zu schützen, in dem diese für nahezu jedes Studienfach – sofern es nicht gerade Byzantinistik ist – eine Zulassungsbeschränkung „NC“ oder Aufnahmeprüfungen vorgeschaltet haben. Eine bildungspolitische Unterscheidung von „Chancengleichheit“ und „Chancengerechtigkeit“ scheint geboten.
Da trotzdem die Studien-Abbrecherquoten so hoch bleiben, scheint das Abitur auch generell betrachtet nicht mehr die Qualifikation zu vermitteln, welche sui generis vorgesehen ist: eine Studienbefähigung, die Allgemeine (!) Hochschulreife.
Schlimm ist auch die Botschaft, welches man so bei den jeweiligen Abiturienten hinterläßt, welche mit – zu recht stolzgeschwellter Brust – und dem wohlwollend benoteten Reifezeugnis in ein Studium eintreten und dieses dann abbrechen müssen. Oder der Schüler, welcher zum Einstellungstest eingeladen wird und dort auf Grund mangelndem Basiswissen scheitert.
Ein von Schulen wohlmeinendes, gut benotetes Abschlusszeugnis, welches nicht auch mit dem entsprechenden fachlichen möglichst objektiv nach externen Kriterien bewerteten Basiswissen des Schülers unterlegt ist, wäre wohl eine (böswillige?) Täuschung. Nicht nur gegenüber dem Kulturprogramm, welches sich auf diese Schul-Zertifizierung verlassen können muss, sondern auch eine des Individuum, dem entsprechende Reife und Basiswissen ja dann nur „vorgegaukelt“ wird.
Die Langfassung des Bildungsberichtes 2014 findet der Selbstleser hier.
Ein Gedanke zu „Bildungsbericht Hamburg 2014 – Bildung quo vadis?“