In Hamburg ist die Initiative „G9 jetzt“, welche für eine parallele Wiedereinführung des Neun-jährigen Abiturs kämpft, im Sammel-Endspurt. Mit einem Volksbegehren möchte die Initiative die Hamburger Bürgerschaft zu einer „verbindlichen Behandlung“ des Themas bringen. In Hamburg ist dieser Schritt auch notwendige Voraussetzung für einen späteren Volksentscheid und setzt zunächst einmal ca. 60.000 Befürworter der Idee voraus. Damit „ist der Fisch aber noch lange nicht gegessen“, denn in einem Volksentscheid, welcher dann den Hamburger Wahlberechtigten zur Abstimmung vorgelegt wird, kann der Hamburger Senat auch immer gleichzeitig einen Gegenvorschlag mit zur Abstimmung stellen. Da fließt noch viel Wasser die Elbe hinunter, bis die Hamburger das Y-Modell nach dem Vorbild in Schleswig-Holstein bekommen können.
Die Vorteile des G9-Abiturs liegen scheinbar auf der Hand: Mehr freie Zeiträume für’s Familienleben, mehr Zeit zur Wissensvertiefung, mehr Zeit für die Schüler, sich in anderen Lebensbereichen und Peer-groups außerhalb der „Penne“ zu engagieren Eben „mehr Qualität für Kindheit und Jugend„.
Die Nachteile von G9 liegen etwas „um die Ecke herum“ auf der Meta-Ebene der Schulpolitik. Die vordergründige Argumentation, dass erst einmal Ruhe in den fiebrigen, reformgeschüttelten Bildungskörper einkehren muss, trifft wohl nicht so ganz den Kern. Auch die „zusätzliche Arbeitsbelastung“, welche durch ein Nebeneinander von G8 / G9 entstehen würde, erscheint eher vorgeschoben. Auch die Betonung auf „die Hamburger Gymnasien wollen die Rückkehr ja gar nicht“ trifft es nicht so ganz.
Das Hauptproblem für die Wiedereinführung von G9 liegt wohl eher in den Hamburger Stadtteilschulen, zu denen dann Hamburger Gymnasien keine klare Abgrenzung mehr hätten, keinen „USP“ (Unique Selling Proposition) mehr bieten und hier haben alle Beteiligten starke Bedenken.
Die Gymnasien sehen sich in ihrer Existenz bedroht und befürchten im Extremfall ihre Abschaffung. Und die Stadtteilschulen sehen ihre letzten Schüler mit Gymnasialempfehlung abwandern und sich selbst so zu einer „Prekariatsschule“ verkommen, wenn an den Gymnasien das Abitur „zum gleichen Preis zu haben ist“. Und was mit „Resteschulen“ passiert, hat man ja an der Abschaffung der Hauptschulen empirisch nachvollziehen können.
Somit – so die Befürchtung – wäre die Schullandschaft in Hamburg auf bestem Wege hin zu einer „Schule für Alle“. Was weder nicht unbedingt jede Stadtteilschule mit teilweise sehr individuellen Bildungsprofilen, noch die Gymnasien für gut befinden würden. Zu dieser bildungspolitischen Richtung muss man wohl auch die Art der Umsetzung der Inklusion in Hamburg rechnen, die jetzt allmählich wohl auch von Wissenschaftlern als „totalitäre Inklusionsideologie“ kritisiert wird.
Mal die schulpolitische Entwicklung fiktiv weitergedacht:
Letztendlich würde eine solche Einheitsschule den Kultusministerien einen Haufen Kosten und Aufwand sparen: Schulempfehlungen in der Primarstufe müssten nicht mehr geschrieben werden, Schulstandorte könnten weiter zusammengelegt werden, Wegezeiten der Sonderpädagogen – die ja als Springer eingesetzt werden – würden praktisch wegfallen und man könnte schulpolitisch den Spieß umdrehen und sich fragen, ob man nicht generell die Schulzeit an der neuen Einheitsschule generell auf 12 Jahre setzt: Statt G8 nun auch ein STS8 😉
Und die WAZ für das Unterweisungspersonal bleibt natürlich gleich (!), womit Lehrpersonal und die SuS dann gleich noch ’ne Stunde länger in der Schule verweilen und damit den Eltern mehr Zeit zur Teilnahme am gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozess verschafft. Eben „Beschult und beschallt von morgens bis abends„, wie der Deutschlandfunk gestern titelte. Eine gesellschaftliche Win-Win-Situation für alle?
Ein Blick in die Bildungstheorien kann hier zwar keine Abhilfe schaffen, aber vielleicht Gedankenanstoß sein:
Schule als Bildungszeit ist ökonomisch betrachtet immer „Abzug von Arbeitszeit“ und die Ausbildungssektoren (Schulen und Hochschulen) stehen damit immer im gesellschaftspolitischen Interessenskonflikt. Per se eine Dilemmastruktur, da die Interessenlagen der Aktanten divergieren.
Unsere Bildungsinstitutionen sind „Forschungslabore“, in denen Kulturprogramme (Gesellschaften) ihre Bildungsanforderungen den nachfolgenden Generationen nahe bringen können, und zwar unter „Laborbedingungen“ bewusst partiell (!) außerhalb der realen existierenden Produktionsgesellschaft gehalten.
Diese Bildungslabore, Schulen genannt, sind ständig im Fokus des politischen Interesses der die Schule umgebenden Umwelt und müssen sich ihren Raum für Bildung beständig erkämpfen, da diese Umwelt versucht, das Raum-Zeit-Fenster für den Bildungsprozess stets so kurz und billig wie möglich zu halten. Zusätzlich stets begleitet vom Misstrauen der Aktantengruppen innerhalb der Gesellschaft (der Wirtschaft, den Eltern und der Politik), ob denn ja auch in diesem „Bildungslabor“ – Schule genannt – jenes gelehrt werden möge, was der jeweiligen Gruppen-Erwartungshaltung an zu vermittelnder Schulbildung entspräche.
Schule als „Zeitraum für Bildung“ darf aber doch nicht so ausgestaltet sein, dass Sie den Schülern nahezu jeglichen Freiraum für das reflexible Momentum der Bildung nimmt: Zeit zum Nachdenken und Reflektieren muss gewahrt bleiben.
Schließen wir daher den Gedankengang mal mit einem Zitat von Marx, (ja, den auch ein Bildungsökonom mal in die Hand nehmen darf ;-)):
„Die freie Entwicklung der Individualitäten und daher… die Reduktion der notwendigen Arbeitszeit zu einem Minimum, der dann künstlerische, wissenschaftliche Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordene Zeit und geschaffenen Mittel entspricht.“ (Marx 1857-58, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Nachdruck FF/Main S. 593)
4 Gedanken zu „Bildung in Raum und Zeit“