Bildung als gesellschaftliches Ziel? Warum muss ich den Quatsch eigentlich lernen?

Wann immer sich Politiker verschiedenster Couleur über die vordringlichsten Zielsetzungen im Rahmen ihres Parteiprogrammes in der Öffentlichkeit äußern – mit besonderer Vehemenz typisch auf Wahlveranstaltungen – dann darf natürlich das Thema „Bildung“ nicht fehlen.
Prominente und weniger prominente Vertreter praktisch aller demokratischen Parteien reden oft, viel und lautstark über Bildung und betonen ihr engagiertes Anliegen, insbesondere jungen Menschen an Schulen und Hochschulen optimale Bedingungen zum Erwerb von Bildung zu bieten, um die den persönlichen Wünschen entsprechende Positionierung im Rahmen der Gesellschaft zu sichern.
Dabei wird unterstellt – jedenfalls klingt es so – dass Bildung einvernehmlich ein erstrebtes gesellschaftliches Ziel sei.
Um für den Begriff „Bildung“ eine verbindliche und kompetente Definition zu gewinnen, bemühe ich Band 2 des Bertelsmann Lexikons:

„Bildung: „…seit der Zeit des deutschen Idealismus mit der Bedeutung: innere Formung, Entfaltung der geistigen Kräfte des Menschen durch Aneignung kultureller Werte der Umwelt und der Vergangenheit und ihre Verarbeitung zu einer persönlichen Ganzheit.
Bildungsziel ist in erster Linie die Entwicklung und Förderung geistig-seelischer Anlagen und Fähigkeiten: logisches Denken, Ausdrucksfähigkeit, Tiefe de Empfindung und Willensstärke …Die Bildung soll – unabhängig von Zwecken – einer allseitigen Entfaltung der allen Menschen gemeinsamen Grundkräfte dienen…“

In diesem Zusammenhang sei es erlaubt, die Frage zu stellen, inwieweit der hier definierte Begriff „Bildung“ und das in diesem Zusammenhang formulierte Ziel aus heutiger Sicht noch ein vordringliches Anliegen unserer Gesellschaft sind.

Die im Folgenden vertretene Meinung ist – vor allem im Zusammenhang mit dem Schulalltag – darauf sei ausdrücklich hingewiesen – durch die langjährige
Tätigkeit als Nachhilfelehrer im Bereich von MINT- Fächern geprägt. Aber bei Weitem nicht nur!

Von „verzweifelten“ Schülerinnen / Schülern wurde und wird mir immer wieder einmal die Frage gestellt: „Wozu muss ich den Quatsch eigentlich lernen?“ Daraus ziehe ich – ob erlaubt oder nicht – den Schluss, dass weder das Elternhaus noch die Schule zufriedenstellende Antworten auf diese berechtigte Frage gegeben haben.
Natürlich fühle ich mich in diesen Situationen sehr in der Pflicht, aus der Sicht des Nachhilfelehrers eine Antwort zu geben, mit der die Fragende / der Fragende etwas anfangen kann. Auf der Basis meines eigenen Lebensweges, der sehr weitgehend durch Elternhaus, altsprachlich gymnasiale Schulzeit, dem Ingenieursstudium an der TU Berlin, das seinerzeit noch das sogenannte Humanistische Studium mit vier allgemeinbildenden Fächern beinhaltete, und meine persönlichen Vorlieben geprägt ist, bin ich in der Versuchung, meine Antwort im Sinne des oben definierten Bildungsbegriffes und der Ziele („unabhängig von Zwecken“) zu formulieren.
Hier muss ich jedoch gestehen, dass mir vor dem Hintergrund der aktuellen Einschätzung der Bedürfnisse unserer Gesellschaft der Mut dazu fehlt. Es ist wohl zu erwarten. dass junge Menschen im aktuellen Schulalltag und dem alltäglichen Geschehen, das sie in Ihrem privaten Umfeld im Freundes- und Familienkreis bestimmt, wenig oder gar nichts mit dem klassischen Bildungsideal anzufangen wissen.
Deshalb habe ich mich bei meinen Antworten entschieden, den Begriff „Bildung“ durch „Ausbildung“ zu ersetzen, und unterstelle aus dieser meiner Einschätzung, dass auch „Ausbildung“ gemeint ist, wenn die Politik oder prominente Vertreter des öffentlichen Lebens über Bildung und Bildungsziele debattieren, die es gilt, zum Wohle vor allem der Jugend und ihres zukünftigen Platzes in der Gesellschaft zu fördern und stärken.
Und – in der Tat- ist es ja auch ein hehres Ziel, exzellente Ausbildungsbedingungen an allen Schulen zu gewährleisten.
Die Curricula der Schulen – von der Grundschule bis zur Oberstufe – müssen daher so breit angelegt sein, dass jede Schülerin / jeder Schüler zum Abschluss seiner Schulausbildung bestmöglich darauf vorbereitet ist, die angestrebte Berufsausbildung reibungslos zu starten und erfolgreich abzuschließen. Aus der Entscheidung – wie auch immer sie gefallen ist – für eine bestimmte Schulrichtung folgt die Notwendigkeit, in den an dieser Schule angebotenen Fächern Leistungsnachweise erbringen zu müssen, deren abschließende Beurteilung in der Gesamtheit bestimmt, ob das Schulziel erreicht ist oder nicht.
Aus Sicht der fairen Ausbildungschancen für Alle muss die Antwort auf die oben gestellte Frage etwa lauten: „Damit Dein mathematikbegabter Klassenkamerad / -kameradin die Voraussetzungen für das beabsichtigte Ingenieursstudium im Schulunterricht erwerben kann, musst auch Du Dich mit der aus Deiner Sicht eher ungeliebten Mathematik mit dem Ziel eines ordentlichen Schulabschlusses ernsthaft beschäftigen. Im Gegenzug müssen andere Schüler und Schülerinnen in Deiner Klasse zum Beispiel Fremdsprachen intensiv erlernen, die Ihnen möglicherweise weniger liegen, damit Du Dein geplantes Sprachenstudium erfolgreich starten und absolvieren kannst. Gleiche Ausbildungschancen für alle Schülerinnen und Schüler basieren also auf dem Solidaritätsprinzip. Deswegen musst Du den „Quatsch“ lernen.“

Diese Wahrheit mag für einige der Lernenden bitter sein. Aber Manche mögen sich vielleicht damit trösten, dass es auch einen persönlichen Nutzen haben mag, Kenntnisse im Bereich von Fächern zu erwerben, die außerhalb oder am Rande der eigenen Zielvorstellungen liegen. Und siehe da: Dann nähern wir uns wieder ganz vorsichtig dem Bildungsbegriff.

Veröffentlicht von

Hensel

Prof. Dr. Wilfried Hensel, TU Berlin. 30 Jahre naturwissenschaftliche Lehrerfahrung

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