…so titelt heute das „Hamburger Abendblatt“ mit Verweis auf eine Senatsauskunft, nach der die Durchschnittsnoten im Mathe-Abi an Gymnasien auf 3,1 und an den Stadtteilschulen (ehemals Gesamtschulen) auf 3,8 rutschten. Nun ist die Aufregung natürlich groß. Die Wirkung ist klar, Ursachen sollen – und müssen wohl auch – klar benannt werden. Auch wir haben natürlich als schulische Lernbegleiter seit 22 Jahren unsere spezifische Sicht auf die Dinge und bringen mal in loser Reihenfolge einige Narrativen ohne Anspruch auf Vollständigkeit als Beitrag in die Diskussion ein. Warum Mathematik damit auch bei uns das Nachhilfefach Nummer Eins ist, wird somit vielleicht auch etwas deutlicher:
- Mangelnde Lebenskorrelation: Mathematik gehört zu den Schulfächern, zu denen heute in Lebenswelt, im täglichen Umgang kaum noch direkte Beziehung hergestellt wird: Kaufte man früher mit Bargeld beim Krämer um die Ecke, so lernten Kinder anschaulich den Umgang mit Maßen, Gewichten und Zahlen. Aufschnitt erwarb man 50 oder 100g-weise, Butter habpfundweise lose. Einkaufszettel wurden im Geschäft nachgerechnet: Wehe, das Kind kam mit falschem Wechselgeld vom Einkaufen zurück: Ergo wurde gleich im Geschäft der handschriftliche Einkaufsbeleg nachgerechnet. Das Familienleben lief nach einer analogen Uhr ab: Uhrzeiten „umrechnen“ musste gekonnt werden.
- Lernfeldbezogener Unterricht: Lernfelder aus Bildungsrahmenplänen der Länder werden individuell an Schulen in jeweiligem Fachcurricula verarbeitet. Lernfelder werden nur noch vorgestellt, die Themenkreise (Lernfelder) jeweils dokumentiert. Eine Konditionierung von umfassendem Basiswissen ist so schwer möglich: Es fehlt trotz Ganztag schlicht die Unterrichtszeit. Heraus kommt dann häufig nur noch die Vermittlung von „Kochrezepten„.
- Das Fehlen von Klassenwiederholungen: Das macht sich gerade bei Mathematik besonders negativ bemerkbar: Ad 1 ist Mathematik modular aufgebaut, einzelne Lernfelder haben gerade in Primar, Unter- und Mittelstufe scheinbar im ersten Anschein wenig miteinander zu tun, „vernetzen“ sich aber dann später: Mathe verzeiht – ad 2 – eben keine Wissenslücken: Einmal das Vorzeichen falsch gesetzt, einmal die Klammer nicht richtig ausmultipliziert, schon ist das Ergebnis falsch. Mathe-Lücken sind hier wie Karies: Diese gehen nicht von alleine zu: Schüler werden durch fehlende Klassenwiederholungen schlicht einfach weiter nach oben geschoben, bis die Spreizung zwischen erwartetem und tatsächlich beherrschtem Stoff zu groß ist.
- Mangelnde Fähigkeit im sogenannten Sinnentnehmenden Lesen: Um Anwendung und Umsetzung des erworbenen Wissens zu prüfen – Schule soll ja Kompetenz legen und auch abprüfen, finden in Mathe-Leistungsüberprüfungen häufig sogenannte Eingekleidete Aufgaben Verwendung (umgangssprachlich: Textaufgaben), deren Schwierigkeitsgrad – natürlich – ansteigend ist. Fehlende Lese- und Schreibkompetenz der Verkehrssprache (Auch die Antworten sollen und müssen in ganzen Sätzen wiedergegeben werden), schlägt dann schlicht durch: Schlechte Deutsch-Kenntnisse haben so signifikanten Einfluss auf die Mathe-Kompetenz.
- Euphemisierung in der Notengebung: Lehrkräfte neigen heute eher zu positiven Bewertung als noch vor einigen Jahren. Hier spielen Kräfteverhältnisse genauso hinein wie eine falsch interpretierte Fürsorgepflicht: Man möchte ja keine Zukunft verbauen oder durch schlechte Bewertung stigmatisieren. Außerdem wirft eine schlechte Note für den Schüler natürlich auch immer die Frage der validen Vermittlungskompetenz auf.
- Das Theorem der Hochschulausbildung: Mathematik ist basal die (abstrakte) Darstellung von Verhältnissen unter bestimmten Bedingungen. Schulische Mathematik ist anwendungsbezogen: Es gibt im wirklichen Leben immer mathematische Bezugspunkte, die einfach herzustellen sind. Fachstudiengänge sind aber häufig zu abstrakt für heutige Schüler-Verständnislagen. Anders gesagt, es wird mit angehenden Lehrern zu wenig bildhafte Umsetzung geübt. Hinzu kommt der Selbstanspruch der heheren Fakultät, selbst einfachste Kausaliäten in teilweise doch recht redundant abgefassten Definitionstexten zu verklausulieren.
- Fachfremd erteilter Unterricht: Gerade ab der höheren Mittelstufe ein großes Problem. Auch Lehrer und Lehrerinnen studieren neigungsbezogen, in der Regel ein Haupt- und ein Nebenfach. Ein Bio-Lehrer ist nicht unbedingt ein guter Mathelehrer in der Mittelstufe. Ein Klempner ist ja auch nicht automatisch ein guter Maurer.
- Fehlender Leistungsbezug: Auf Seiten von Lehrkräften und Bildungspolitik schon oft diskutiert, doch nie erreicht: Kompetenzen und Kriterien, welchen einen „guten“ von einem „schlechten“ Pädagogen unterscheiden, sind wissenschaftlich durchaus erarbeitet – man denke unter anderem an Hattie – es fehlt jedoch die Umsetzung im praktischen Arbeitsleben. Genauso ist das schulische Leistungsnarrativ aber auch augenscheinlich bei den Schülern etwas herausgenommen worden: Es fehlen klare Belobigungen und Sanktionierungen, es gleicht fast einem Dahintreiben lassen auf die jeweiligen ESA, MSA und Abiturabschlüsse hin, die pädagogische Betonung liegt auf dem „selbstverantworteten“, individuellen Lernen. Ein Aspekt, der so auch schon im ZEIT-Artikel vom Pädagogen Michael Felten von vorgestern anklingt. Was im Hinblick auf den Allgemeinbildungsauftrag eines gesellschaftlichen „Bildungslabors Schule“ und den harten Bedingungen der globalisierten Leistungsgesellschaft „dort draußen“ geradezu erstaunlich für ein Industrieland beziehungsweise eine „Bildungsrepublik“ ist.