Das Thema “Medienkompetenz von Schülerinnen und Schüler“ ist sehr ergiebig und wird mit verlässlicher Regelmäßigkeit in der Öffentlichkeit – also vor allem in der Tages-und Fachpresse – mit großer Leidenschaft dargeboten. So berichtete zum Beispiel das Hamburger Abendblatt Anfang Juni im Pinneberg-Teil unter der Überschrift “Grundschule beendet Kreidezeit“, dass das Bildungsministerium in Kiel die Hermann-Löns–Schule in Ellerbek zusammen mit elf anderen Schulen zu einer landesweiten Modellschule für digitale Medien ernannt hat: “Schüler lernen an Smartboard und Laptops“
Die also gehören zum Beispiel zu den digitalen Medien, um die es geht. Hinzufügen dürfen wir mit Sicherheit alle bekannten Varianten, die den Zugang zum Internet ermöglichen, wie iPhones, Smartphones und Tablets.
Da ich diesen Beitrag aus Sicht des Nachhilfelehrers für MINT-Fächer schreibe, schließe ich auch die außerordentlich leistungsfähigen Taschenrechner (sogen. GTR´s – graphikfähige Taschenrechner), mit denen die Schülerinnen / Schüler spätestens in der Oberstufe ausgestattet sind, in diese Betrachtungen mit ein.
Nach meinem Verständnis der öffentlichen Diskussion sind Schülerinnen und Schüler dann medienkompetent, wenn sie die wesentlichen verfügbaren Geräte und deren Anwendungsmöglichkeiten ausreichend gut kennen und sicher damit umgehen können, um die erfolgreiche Erfüllung der Lernziele und Aufgaben im schulischen Alltag zu stützen und abzusichern.
Diese Diskussion um Medienkompetenz lenkt unser Augenmerk auf die Tatsache, dass wir im Bereich des Lehrens und Lernens eine bereits sehr fortgeschrittene Phase erreicht haben, in der erworbenes und sicher angewendetes Wissen teilweise oder komplett ersetzt wird durch Wissensbasen , auf die über die besagten Medien bedarfsorientiert zugegriffen wird.
Darüber gibt es grundsätzlich zunächst nichts zu beklagen. So steht außer Frage, dass wir im MINT – Alltag glücklich darüber sein dürfen, dass uns tabellierte Funktionen – im Bereich der Schulmathematik vor allem die trigonometrischen sowie die Exponential – und Logarithmusfunktionen – über die Medien bzw. über die intelligenten Taschenrechner zugänglich sind. Die Älteren unter uns mögen sich noch an die Zeiten erinnern, in denen wir umfangreiche Tabellenwerke mit z. B. 7- bis 13-stelligen Werten der Logarithmusfunktionen (Keiishi Hayashi) gewälzt haben.
Aber weit über dieses Angebot tabellarischen Wissen hinaus, das wir ohnehin mit unserem individuell erlernbaren MINT- Wissen nicht abdecken können, gibt es praktisch kein Gebiet der Mathematik und der Physik, zu dem man nicht Basiswissen über das Internet aufrufen kann.
Auch in den GTR´s ist ein erstaunlicher Umfang mathematischen Basiswissens installiert. Gesicherte Kenntnis und Handhabung der Regeln bei der Berechnung von Brüchen, Wurzeln, Potenzen werden augenscheinlich vom Grundsatz her nicht mehr benötigt, um Aufgaben im Schulalltag zu lösen. Das aktive Wissen ist reduziert auf die Kenntnis der Eingabeformate bzw. Tastenkombinationen.
Bei früherer Gelegenheit habe ich bereits darüber geschrieben, dass die Auflösung der trigonometrischen Funktionen nach dem Argument mit Hilfe der Umkehrfunktionen – Arkussinus, Arkuskosinus, Arkustangens – nicht mehr Gegenstand des Schulunterrichts und auch nicht der Lehrbücher ist. Soll ein Sinusterm nach dem Winkelargument aufgelöst werden, so gibt es hierzu eine Bedienungsanweisung des Taschenrechners. Auch die Logarithmusfunktion wird nur noch gelegentlich als Umkehrfunktion der Exponentialfunktion im Unterricht behandelt.
Wenn in der Oberstufe als Kernaufgabe der Analysis die Kurvendiskussion einer ganzrationalen Funktion höherer Ordnung auf der Tagesordnung steht, so haben die „medienkompetenten“ Schülerinnen / Schüler bei der Teilaufgabe: “Erstellen Sie eine Wertetabelle und zeichnen Sie den Funktionsgraphen“ daher so keine Kopfschmerzen mehr.
Sie brauchen nur die Koeffizienten ihrer Funktion in ein Rechenprogramm einzugeben, das auch Bestandteil z. B. eines GTR´s ist, und bekommen auf Tastendruck die Tabelle und den Funktionsverlauf im x- y- Diagramm visualisiert. Schöne, neue denkfreie Welt.
Soweit also Medienkompetenz dazu genutzt werden kann, bei solide erworbenem Basiswissen und kompetent gehandhabter Anwendung Arbeitserleichterung und damit rationelleres Schaffen zu ermöglichen, ist sie sicher sehr segensreich. Inwieweit sie jedoch die Fachkompetenz im Bereich der hier betrachten MINT-Fächer ersetzen kann und soll, muss sorgfältig abgewogen werden.
Im modernen Alltag des Lehrbetriebes an unseren Schulen werden sehr unterschiedliche Methoden der Wissensvermittlung praktiziert. Da gibt es nach wie vor teilweise den sogenannten Frontalunterricht. Ein tradierter, fachkompetenter Lehrer-In vermittelt der Klassengemeinschaft Basiswissen und dessen solide Anwendung bei der Lösung der Aufgaben, die erst dann gestellt werden, wenn das Wissen mehrheitlich angelegt ist. Sollte man meinen. So wird hier Medienkompetenz im obengenannten Sinne von erworbener Fachkompetenz dann sinnvoll unterstützend wirken.
Eine andere Methode der heute praktizierten Wissensvermittlung ist der sogenannte kompetenzorientierte, individualisierte Unterricht. Es gilt der Grundsatz (siehe Chr. Fahse, Wie unterrichtet man Kompetenz): “Kompetenzen werden nicht unterrichtet, sie werden von den Schülern erworben.“
Hier wird in der Regel kein Basiswissen vermittelt, sondern es werden Themengebiete des Lehrstoffes in Bildungsplänen der Schulen benannt, in schulischen Fachcurricula dann übernommen, zu denen dann Aufgaben gestellt werden, die die Schülerinnen und Schüler in kleinen Gruppen lösen sollen.
Die Ergebnisse werden dann je Gruppe zum Teil in (Power-Point-)Präsentationen vorgetragen. Wenn die Schüler in dieser Unterrichtswelt erfolgreich und „kompetent“ erscheinen wollen, müssen sie zwingend über Medienkompetenz verfügen, welche Sie sich in der Regel selber aneignen.
Das geht dann etwa so: Der Physiklehrer verkündet, dass die Klasse sich aktuell mit den Kepler’schen Gesetzen und dem Phänomen der Gravitation beschäftigen soll. In dieser Zielsetzung stellt er den vorher zusammengestellten Kleingruppen in der Klasse die Aufgabe, den Abstand der Umlaufbahn eines geostationären Satelliten von der Erde zu ermitteln.
Die Schüler-Gruppe weiß weder, was ein geostationärer Satellit ist, noch kennt sie die Gesetze und die Daten, die zur Lösung benötigt werden. Aber die Gruppe ist „medien-kompetent“: Schnell ist mit Hilfe von Google die entsprechende WIKIPEDIA – Abhandlung gefunden, die die Lösung enthält.
Die Lerngruppen erstellen mit „copy and paste“ eine gute PP-Präsentation und bekommen eine gute Schulnote.
Auf diese Weise lassen sich recht simpel durch einfaches digitales Nachschauen Lösungen zu Aufgaben finden, die bereits erarbeitet wurden, gut dokumentiert sind und über digitale Medien und Netzwerke zugänglich sind.
Aber ist solches Agieren praxisorientiert im Sinne des Lösens der Probleme von morgen? Aus eigener MINT-Erfahrung in langjähriger Ingenieurstätigkeit will ich hier anmerken: Solche Situationen würden wohl in einem späteren Berufs-, Arbeits oder gar Forschungsleben selten anzutreffen sein.
Denn in der Regel geht es um neue Lösungen im Rahmen des zwingend innovativen Prozesses, der unsere Zukunft prägen muss und wird.
Dazu gehört nun einmal unverändert solide erworbenes Basiswissens und die erfindungsreiche, erfolgreiche Anwendung desselben bei neuen Aufgaben getreu dem Motto: Vorher durch Basiswissen erworbene MINT-Kenntnisse, sinnvoll unterstützt durch Medienkompetenz führt zum Ziel. Selbiges geht aber nur mit vorher erworbenem, kumuliertem Basiswissen.
Ein Gedanke zu „Medienkompetenz versus MINT-Kompetenz?“