Ein differenziertes Schulsystem sei anachronistisch, grenzt aus – ja, stigmatisiert gar Schüler und schafft keine Chancengleichheit. Mit diesen und ähnlichen Argumenten wurde in der Vergangenheit der Rückbau der Schuldifferenzierung der Sekundarstufe (ab 5. Klasse) in deutschen Bundesländern vorangetrieben. Im Wesentlichen ruht der sogenannte Sekundäre Ausbildungsbereich in Deutschland bundesweit ab Klasse 5 nunmehr auf zwei Säulen, dem Gymnasium und einer Sekundarschule, die zwar je nach Bundsland hoch-kreativ unterschiedlich benannt wird, aber sich in den Inhalten nicht signifikant unterscheidet. In Schleswig-Holstein firmiert sie beispielsweise unter dem Begriff „Gemeinschaftsschule“, im Bundesland Hamburg unter „Stadtteilschule“.
Und auch die Bundesrepublik Österreich baute fleißig mit und um. Das österreichische Schulsystem ist – was Schulstruktur und Bildungspläne anlangt, mit dem Deutschlands durchaus vergleichbar. Nach vier Jahren Volksschule – wie die Grundschule dort heißt, erfolgt ein Schulübertritt: Entweder auf die sogenannte Hauptschule mit äußerer Differenzierung, deren Niveau im Mittel allerdings wohl eher mit dem deutschen (ehemaligen) Realschulsystem verglichen werden kann, oder auf die AHS, dem österreichischen Äquivalent des Gymnasiums.
Der Gymnasialbesuch nach der 4. Klasse unterliegt in Österreich jedoch klaren Regeln: Nur wer in den Kernfächern gute bis sehr gute Schulnoten erzielt hat, kann dorthin, eine Schullaufbahnempfehlung ist bindend oder der Übergang ist an eine Aufnahmeprüfung – wie in Bayern – geknüpft. Die AHS-Plätze sind zudem rar und heiß begehrt, ein Rechtsanspruch auf AHS-Besuch besteht nicht.
Österreich hat nun seit 2008 – wie in Deutschland auch – den Umbau der Hauptschulen zu Gesamtschulen betrieben, die in Österreich NMS (Neue Mittelschule) heißen und zusätzlich € 1.000,– je Schüler / Schuljahr für die NMS-Umsetzung locker gemacht. Mittlerweile sind 96% der Hauptschulen NMS. Die NMS wurde in den ersten Jahren neben der Hauptschule – als Konkurrenz – eingeführt, ähnlich der parallelen Einführung von Gesamtschulen in Deutschland.
Österreich hat diese Einführung jedoch über die Jahre wissenschaftlich durch eine Evaluation (vergleichende Leistungsmessung) begleiten lassen und zwar nicht federführend durch das Bildungsministerium, sondern durch unabhängige Dritte unter der wissenschaftlichen Federführung der Universitäten Wien und Salzburg.
Die Daten wurden letzte Woche – nach längerem Hickhack, die Ergebnisse liegen bereits seit Ende 2014 vor – nun der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Mit nicht unbedingt herausragenden Ergebnissen für die neue Schulform.
Folgende pädagogische Ziele hat bzw. hatte die NMS:
- Leistungsförderung: Kompetenzzuwachs durch den Schulbesuch bei möglichst allen Schüler /innen
- Chancenausgleich: Geringer Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft (bzw. Geschlecht, Region, Migrationsstatus…) und Schulerfolg
- Integration: „No child left behind“
- Gerechtigkeit: Gleiche Beurteilungen, Berechtigungen und Abschlüsse für gleiche Leistungen
Konkrete Zielsetzung (generiert aus Expertenbefragungen):
1. Reduktion sozial bedingter Ungleichheit von Bildungschancen
2. Schüler /innen zur individuellen Leistungshöchstgrenze führen
3. Alle Schüler /innen sollen ihre Begabungen, Interessen und Neigungen entfalten können
4. neue pädagogische Fundierung – individuelle Förderung im Fokus
5. Innere Differenzierung des Unterrichts statt fixer Leistungsgruppen
6. Neue Erkenntnisse und Verbreitung guter Praxis durch Pilotschulen und deren Evaluierung
Wie man unschwer erkennt, sind die Ziele nahezu identisch mit der deutschen bildungspolitischen Gesamtschul-Zielsetzung bis hin zur Integration von Migranten und der Inklusion. Und auch der individualisierte Unterricht ist nicht zu kurz gekommen. 😉
Didaktisch kennzeichnend für die NMS sind ferner Abkehr von der äußeren Leistungsdifferenzierung, Teamteaching (Doppelbesetzungen in den Kernfächern), Individualisierung und selbst verantwortetes Lernen.
Die österreichische Evaluation wurde begleitend mit Vollerhebung und Stichproben durchgeführt. Die nun vorliegenden Ergebnisse der Evaluation ernüchtern allerdings:
Lern- und Leistungsfortschritte im Vergleich zur ehemals differenziert und „klassisch“ unterrichtenden Hauptschule? Nein, eher schlechter. Sinnhaftigkeit von Doppelbesetzungen im Unterricht? Kein Effekt zum Positiven hin feststellbar. Mehr Chancengleichheit? Fehlanzeige. Annäherend gleiche Leistungen und Zielerreichung nur dort, wo ein besonders engagierter Lehrkörper wirkt… Auch das Notensystem mit grundlegenden und erhöhten Anforderungen wird kritisiert.
Die Reaktion in Deutschland fällt – trotz der nahezu identischen Schullandschaft und vergleichbarer sozio-demografischen Merkmale – merkwürdig verhalten aus. Einzig DVL-Präsident Kraus forderte bislang, sich „von der Ideologie der Gleichmacherei zu verabschieden“ und eine generelle Abkehr von Einheitsschulsystemen.
Vor dem Hintergrund bisheriger Stichproben in Deutschland zur Vergleichbarkeit von Gesamtschul- zu Gymnasialabitur rundet der österreichische Forschungsbericht das Bild der Kritiker von Gesamtschulsystemen weiter ab und bestätigt Befürchtungen.
Die Zusammenfassung der Ergebnisse hier, die komplette Studie hier, die etwas bildlicher gehaltene Präsentation des österreichischen Bildungsministeriums hier.